Die unsicherste aller Tageszeiten
dem Bedürfnis geleitet, wieder Liebe und Frieden zwischen uns herrschen zu lassen. Als Mitternacht kam und der letzte Rest des Tages ohne seinen Rückruf verging, hielt ich es endgültig nicht mehr aus und floh ins
Schwuz
. Und als die Nacht mit fremdem Sperma in meinem Enddarm endete und ich nach Hause zurückkam und er mir auch keine Nachricht auf dem AB hinterlassen hatte, da packte ich endgültig meine Sachen und lief davon nach Föhr. Jetzt drohte mir also wirklich nur noch Unheil vonseiten Hannes, und ich glaubte ernsthaft für einen kurzen Moment, diesem so entgehen zu können. Ein Irrtum, wie sich kaum überraschend herausgestellt hat, nur ein weiterer Irrtum.
So sieht es also wirklich aus, aber das ist natürlich auch nur wieder ein Teil der Wahrheit.
Mein Zug fährt ein, kein IC und erst recht kein ICE, sondern eine echte Bummelbahn. Zum Glück mit zwei Wagen erster Klasse ausgerüstet, die so gut wie leer sind. Ich finde sogar ein Abteil ganz für mich allein, in dem ich mich nach Gutdünken häuslich einrichten kann. In erster Linie drehe ich die Heizung auf volle Pulle, denn inzwischen friere ich fast schon, als hätte ich Schüttelfrost. Hinter meiner Stirn pocht es, und heiß fühlt sie sich ebenfalls an, als bekäme ich Fieber. Als die Frau vom Catering mit ihrem Wägelchen vorbeikommt, lasse ich mir einen Tee geben. Leider hat sie weder Rum noch frische Zitrone, dafür schwatze ich ihr ein paar Papierservietten mehr ab, die brauche ich als Taschentücher für meine laufende Nase.
Ich würde so gern die Strecke bis nach Hamburg schlafend verbringen, aber weder Kopf noch Körper werden mir die dafür nötige Ruhe gewähren. Als wäre ich ein katholischer Christ, verlangt es den einen weiter nach Beichte und den anderen nach Buße, die er scheinbar in der sich zu einer Grippe und wer weiß was noch allem ausweitenden Erkältung gefunden zu haben glaubt. Ich habe keine Kraft mehr, davor noch länger wegzulaufen, ob ich will oder nicht, es ist endgültig an der Zeit, sich der ellenlangen Anklageschrift zu stellen.
Ich will mich ihr nicht stellen, es stehen so viele Punkte darauf, und außerdem reicht sie so viele Jahre zurück, letztendlich sogar bis an den Punkt meines Erwachsenwerdens. Es betrifft nicht nur Hannes und reicht auch weiter zurück als bis zu Theo und Markus, die vor Hannes gekommen sind. Nein, es betrifft alle, alle meine mehr oder weniger anonymen sexuellen Abenteuer, das Vater-Sohn-Ferien-Gespann Jürgen und Tim ebenso wie wohl ungefähr zwei Drittel aller meiner One-Night-Stands – ich habe da keine Strichliste geführt – und erst recht jede einzelne meiner stets kurzen Beziehungen, die mit Klaus und Karsten eingeschlossen. Nur in den allerseltensten Fällen wird mir sexuelle Unzurechnungsfähigkeit, weil der Schwanz den Kopf ausgeschaltet habe, als strafmildernde Entschuldigung dienen können, in der Regel hatte mein Verhalten eher etwas mit Lügen, bewusster Täuschung oder Gleichgültigkeit zu tun. Ich wollte es nicht anders und kam damit durch, weil ich auch kaum jemals auf jemanden traf, der mich ernsthaft zur Rechenschaft dafür hatte ziehen wollen. Manche gab es, die wollten an meinem Selbstzerstörungsspiel nicht teilnehmen, die zogen sich von mir zurück und verließen mich. Theo war so einer und Ivan und Ralf auch – und ich habe ihnen wutentbrannt die Pest an den Hals gewünscht dafür, dass sie den Nerv hatten, mir ins Gesicht zu sagen, ohne Gummi nicht mit mir schlafen zu wollen, als ihnen die Dinger mal infolge unseres hohen Konsums ausgegangen waren.
»Warum hast du denn nicht rechtzeitig für Nachschub gesorgt?«, echauffierte ich mich mehr vor Theo-Ivan-Ralf, als dass ich sie fragte.
»Ich kam halt nicht mehr dazu, hatte zu viel zu tun«, antwortete Ralf-Ivan-Theo achselzuckend und fügte hinzu: »Aber es geht doch wohl auch mal ohne Ficken, oder?«
»Nein, das will ich nicht!«
»Dann schlafen wir heute eben nicht miteinander.«
»Dann schlafen wir gar nicht mehr miteinander!«
Nach einem entgeisterten Augenblick der Stille folgte mit allen dreien eine bald längere, bald kürzere Diskussion über die Liebe und das, was wir wohl in den letzten Wochen gehabt haben mochten, ob das denn überhaupt nichts bedeuten hätte, und schließlich der Abschied, am Ende meist wortlos, weil sie alle ihre Worte an der störrischen Wand, die ich ihnen nur mehr bot, zerrieben hatten, während ich gar nichts mehr sagen wollte.
Anschließend stürzte ich mich immer in die
Weitere Kostenlose Bücher