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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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zu rutschen.
    »Was ist los?«, fragte Hannes misstrauisch.
    Ich bemühte mich, so wenig wie möglich zu lügen, bestenfalls die Wahrheit an solchen Punkten etwas zu dehnen, wo es mir ratsam erschien, um dem Gesagten mehr Gewicht zu verleihen. Also erzählte ich ihm nicht nur, dass ich gerade ganz wunderbar in meiner Arbeit aufging und es mir einfach eine große Freude und innere Befriedigung bereitete, zu malen und nichts als zu malen. Ich dramatisierte das Ganze und behauptete, mich an einem kritischen Punkt, ja an einem Wendepunkt meiner Karriere zu befinden, und bräuchte daher all meine Kraft und Konzentration, um diese Herausforderung zu meistern. Ich befände mich gerade geistig und auch körperlich an der Schwelle zu einer neuen Daseinsebene – dabei deutete ich auf den Vollbart, den ich mir in den letzten zwei Wochen hatte wachsen lassen, allerdings allein deshalb, weil ich mir vor lauter Kopfzerbrechen, wie ich aus dieser Nummer noch am glücklichsten wieder herauskäme, vergessen hatte, mich zu rasieren; morgen früh schon würde das ekle Gestrüpp den scharfen Klingen des Rasierapparates zum Opfer fallen –, an die ich mich selbst erst einmal gewöhnen müsse. Das hätte ich schon einmal erlebt, damals, als ich mit der ›torture porn origins‹-Serie begonnen hätte, und das sei meiner damaligen Beziehung nicht gerade zuträglich gewesen. Und überhaupt hätte ich die letzten sieben oder acht Jahre beinahe dauerhaft in Beziehungen verbracht und nun festgestellt, wobei das neue Projekt mir als eine Art Erkenntniskatalysator gedient hätte, »dass es einfach besser für mich ist, wenn ich erst mal einige Zeit für mich allein verbringe, verstehst du?«
    Anstatt sofort zu betteln und zu flehen, das Gehörte als Trug seiner Sinne zu verneinen und abzulehnen, vor mir zusammenzubrechen und doch noch nach dem vorgesehenen Drehbuch zu handeln, rückte Hannes noch ein Stück weiter von mir ab, er saß nun fast auf der breiten, flachen Armlehne der Couch, fing auch an zu weinen, die Tränen aber schienen ihm beinahe unbemerkt aus den Augenwinkeln zu rinnen, als wären die Drüsen dort irgendwie defekt und könnten das Wasser von selbst nicht mehr halten, und … Er saß plötzlich ganz aufrecht da, stolz fast schon, unbeugsam, sich von einer geheimen Kraft gestützt wissend, die diese Krise schon beenden würde, noch ehe sie ernsthaft ausbrechen konnte. Mit ganz seltsamer Stimme fragte er mich nicht, ob ich das alles so meinte, wie ich es gesagt hatte, nein, er fragte mich nur: »Aber du liebst mich immer noch?«
    Erschrocken erinnerte ich mich, dass ich ihm das tatsächlich ein- oder zweimal gesagt hatte, nachts im Bett, beim Kuscheln nach dem Sex, kurz vor dem Einschlafen, wenn man nicht mehr so ganz Herr seiner Sinne ist, oder so ähnlich.
    »Ja«, stotterte ich.
    »Du hast mir so oft gesagt, dass du mich liebst«, fuhr er fort, und seine Stimme klang so klar und rein, dass kein Zweifel möglich war. »Zuletzt am Sonntag vor zwei Wochen, als du mich sogar zur U-Bahn gebracht und zum Abschied geküsst hast. Da hast du mir laut und deutlich, sodass alle Umstehenden es hören konnten, gesagt, dass du mich liebst.»
    »Ja, aber …«
    »Das hast du doch, oder?»
    »Ja.«
    »Und auch so gemeint?«
    »Ich … Ja.«
    »Dann verstehe ich das nicht. Wenn du mich liebst, wie kannst du mich dann verlassen? Das tut man doch nicht.«
    »Doch, manchmal schon«, stotterte ich, puterrot im Gesicht.
    Hannes hob nur wie müde eine Augenbraue. Wie kann ein so junger Mensch nur schon zu einer so alten Geste fähig sein?
    »Wann denn?«
    »Na, wenn man sich gerade beruflich neu orientiert, keine Zeit hat deswegen. Wenn man sich selbst gerade verändert. Oder wenn man einfach mal ein bisschen Zeit für sich selber braucht. Solche Sachen eben.«
    »Und dann bedeutet Liebe nichts?«
    »Das Leben ist nicht so einfach.« Ich atmete tief durch, versuchte Ordnung, Halt in meine schwimmenden Gedanken zu bringen. »Du bist noch so jung. Und du bist ein echter Romantiker. Du musst erst noch begreifen lernen, dass auch die Kraft der Liebe begrenzt ist. Nicht jeder, in den du dich verliebst, wird diese Gefühle für dich auch erwidern, selbst wenn es im ersten Moment so scheint.«
    »Du hast mich aufgerissen, schon vergessen?«
    »Du sahst ja auch geil aus da in dem …« Ich verstummte erschrocken.
    Hannes schüttelte energisch den Kopf, er wusste es besser.
    »Das war nicht nur Geilheit. Wenn es nur Geilheit gewesen wäre, dann hätten wir

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