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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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Malerei, malte die schlimmsten zwischenmenschlichen Exzesse und redete mir ein, sowieso alles nur für die Kunst zu tun. Dafür würde ich meine Erfahrungen sammeln, mich immer wieder nackt in den dunklen Abgrund stürzen, ohne überhaupt wissen zu wollen, ob da unten jemand wäre, der mich auffangen könnte. Ich wollte doch nur hart auf dem Boden aufschlagen, um noch eindrücklichere Bilder malen zu können – und dennoch hatte es mich dann sehr getroffen, als mich mein zukünftiger Galerist etwa nicht mehr beschlafen, sondern nur noch geschäftlich vertreten wollte. Und deshalb – so musste es ja sein, anders passte es gar nicht – sagte ich von Anfang an nie nein, wenn jemand darauf bestand, es ohne Kondom mit mir zu tun, und hörte irgendwann, ziemlich bald eigentlich schon, selbst auf, danach zu fragen. Wie etwa bei dem Typen damals, dem ich gleich bei einem meiner ersten Ausflüge in die Hamburger Sexszene begegnet bin. Er war groß, stark, ausgesprochen männlich und hatte einen Schwanz zum Niederknien. Alle Anwesenden wollten sich von ihm ficken lassen, ich hatte ihn bekommen! Was ich auch tat und er sich gefallen ließ. Er fickte mich in den Mund, hart und fest und hatte seine Hände wie eine Eisenklammer um meinen Kopf gelegt, damit ich auch ja nicht aufhören konnte. Ich dachte schon, er würde mir in den Mund abspritzen wollen, stattdessen fand ich mich nach einer blitzschnellen Bewegung plötzlich auf allen Vieren und spürte, wie er mir meinen Arsch oberflächlich mit seinem Speichel einseifte.
    »Hast du was zum Verhüten dabei?«, fragte ich keuchend.
    »Sind wir hier beim Arzt oder willst du Sex haben?«, fragte er zurück und stieß zu.
    Ich nahm sein Sperma, das aus mir heraustropfte, als Trophäe so wie jeden anderen Spermatropfen später auch und ließ alles in Farben und Formen meiner Gemälde einfließen.
    Doch auch die Rechnung geht nicht auf, denn auch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Es hatte ja einen konkreten Grund, warum ich plötzlich, nach einer so langen Zeit stabiler und genügsamer sexueller Abstinenz, in das komplette Gegenteil verfiel, alle meine Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte nach der großen Liebe, die mich nach Karsten quasi als ein Versprechen auf Wiedergutmachung über die Jahre getragen hatte, in einen emotionalen Fatalismus verkehrten, der mich vollends verdarb und wegen dem ich dann, als ich Klaus tatsächlich endlich begegnete, überhaupt nicht mehr fähig war, darauf einzugehen und sie anzunehmen. Und dass ich gerne meine Mutter dafür verantwortlich mache, hat einfach nur damit zu tun, dass es leichter ist, den Überbringer der schlechten Nachricht umzubringen als die schlechte Nachricht selbst – und die Nachricht war wirklich schlecht.
    Der Zug ist jetzt schon fast in Hamburg, und meine Gedanken rotieren. Der Berg meines Gehirns kreißt und gebärt doch nur tote Mäuse. Ich muss vorn anfangen, vorn anfangen, aber ich will nicht – ich kann nicht! Klaus, denke ich stattdessen immer wieder nur ausgewachsen theatralisch, Klaus, du hättest mich bestimmt gerettet, vielleicht nicht ganz, das wäre wohl kaum noch möglich gewesen, aber doch teilweise. Du hast mir deine Geschichte erzählt, wie die Härten der Geschichte dich davor bewahrt haben, in ihren Fluten unterzugehen, als sich alles endlich zumindest politisch und gesellschaftlich zu entspannen schien, nur um dann von innen heraus eine neue, noch wesentlich elementarere Bedrohung als alles, was bisher gewesen ist, erleben zu müssen. Du hast mir deine Geschichte erzählt, doch ich, ich hörte nur aus Höflichkeit zu, nicht aus Interesse und schon gar nicht, weil ich auf irgendeine Art von Moral aus gewesen wäre. Dabei ging es ihm weder um Moral noch um Warnung, ihm ging es um die geistige Nähe, die das Erzählen schafft und die ich mutwillig mit der fleischlichen verwechselte, weil ich mich sonst wie ein Betrüger empfunden hätte, wie jemand, der seiner Gunst und Gabe nicht würdig gewesen wäre. Er hat mich geliebt, und ich hätte es gern gekonnt, ihn zu lieben, und war doch schon zu kaputt dazu.
    Klaus war ein Überlebender, in jeglicher Hinsicht.
    Geboren nur kurz nach der vernichtenden Niederlage im zweiten Weltkrieg musste er sich wenigstens nicht mehr mit der ultimativen Bedrohung herumschlagen, die die Nazis für die Schwulen ihrer Zeit entworfen hatten, dem KZ. Dafür wuchs er im Wirtschaftswunderland der Adenauerära auf, die für schwule Männer nur insofern besser war als der Hitlerstaat,

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