Die unsicherste aller Tageszeiten
werdenden zu meinen Eltern und den mit den Jahren häufiger vorkommenden nach Föhr. Anfangs mochte ich es nicht einmal, wenn mich alte Hamburger Freunde besuchten oder mir Bekannte von der Elbe an der Spree zufällig über den Weg liefen. Dann kamen all die unschönen Erinnerungen gleich wieder hoch wie bittere Galle, ich zog angewidert das Gesicht kraus und die Situation wurde hochnotpeinlich. Erst mit den Jahren, mit Klaus’ unendlicher Geduld und Fähigkeit, mir zu verzeihen, ohne bis heute eigentlich so recht zu wissen, wie sehr ich ihn beinahe wirklich verraten und mit seinem Leben gespielt hätte, gelang es mir, mich mit der Hansestadt auszusöhnen, den Teil meiner Erinnerungen, der bösartig und giftig war wie ein Krebsgeschwür, zu überwinden und mich an dem guten Rest zu erfreuen.
Das ist aber nur die halbe Wahrheit, was meinen Wegzug betrifft.
Wahr ist auch, dass mir Hamburg von Anfang an viel zu klein und eng vorgekommen ist, die Straßen, die Häuser, die Wohnungen. Einzig der Hafen mit seiner Wasserweitläufigkeit, dieser Hauch Ozean mitten in der Stadt, vermag mir damals wie heute ein Gefühl von Freiheit, von Grenzenlosigkeit, von Platz zum Atmen zu vermitteln. Was das angeht, bin und bleibe ich wohl ein Kind vom Land. Eine Stadt kann sehr schnell beklemmend auf mich wirken, und je älter sie ist. Je dichter bebaut, selbst mit den schönsten mittelalterlichen Gassen, desto eingeengter, gefangener komme ich mir bisweilen in ihr vor. Gerade wenn ich Stress habe, wenn mich die Gedanken an irgendwelche frische Dummheiten mit der Hartnäckigkeit einer Hundemeute verfolgen.
Bereits in meiner Kindheit zog es mich immer nach draußen, ob zu Hause gerade mal wieder dicke Luft herrschte oder nicht. Draußen fühlte ich mich einfach immer am wohlsten, ob nun beim Spielen mit meinen Geschwistern und weiteren Kindern aus der Nachbarschaft oder allein verträumt durch die Gegend streifend. Ich fing auch schon früh an, Blumen und Insekten zu malen oder unser Haus im Sandkastensand nachzuzeichnen – was keine gute Idee war, denn wenn ich im Sandkasten saß, um zu zeichnen, durften meine Geschwister diesen natürlich nicht betreten, und die Folge war Kratzen, Beißen, Schreien und oft genug auch eine Ohrfeige für mich, den schlimmsten und nervtötendsten Flegel von allen, durch Mutters oder Vaters Hand, die allem ein Ende setzte. Dann bin ich heulend in den nahen Wald gelaufen – was eigentlich auch verboten war wegen der vielen Wildschweine dort, die angeblich auch dem Menschen und einem Kind allemal mit mächtiger Aggressivität begegneten – und dort herumgestreift, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Wildschweine sah ich übrigens nie, nur die Schnauzenspuren ihrer Futtersuche im weichen Waldboden, dafür aber Rehe und Kaninchen, einen Bussardhorst und, auf einer Wiese am Waldessaum, einen der seltenen Feldhasen. Diese kleinen Fluchten taten mir gut, sie beruhigten mich, indem sie mir Asyl in ihrer kleinen Idylle aus Buschwindröschen und nach Harz und Moos duftendem Unterholz gewährten, in ihrer baumbehüteten Luft voller Gezirp, Gezwitscher und Spechtgeklopfe. Sie lehrten mich, dass sich eine Auseinandersetzung selten lohnt, dass es stattdessen besser ist, den Rückzug anzutreten und zu warten, bis sich die Gewitterwolken wieder verzogen haben. Denn so war es ja immer, wenn ich nach Hause zurückkam, war niemand mehr böse, und alles ging seinen gewohnten Gang.
Wahrscheinlich zieht mich Föhr, dieser von der Flut vergessene Fleck Erde im lebensfeindlich-salzigen Meer, deshalb so magisch an. Dort kann ich allein sein, eine offene Wunde, die von den rauen Elementen ausgebrannt und vernarbt wird. Von dort hole ich mir neue Kraft, aus dem Weltbrodem des Seewinds, der meine Lungen vor der abgasverpesteten und ausdünstungsgeschwängerten Stadtluft schützt, vor den notwendigen Abfallprodukten ihrer Verwertungsenergie.
Denn trotz meiner Liebe zur Natur, zur Menschenleere – es ist die Stadt, die ich zum Meistern meines Alltags brauche. Für Menschen wie mich gibt es auf die Dauer auf dem Land einfach nichts zu holen, weder eine Möglichkeit auf eine echte Ausbildung noch die Chance, Gleichgesinnte in einer freien, von keinerlei Angst und Argwohn überlagerten Atmosphäre treffen und kennenlernen zu können. Das ist nur in der Stadt möglich: Künstler werden und frei von der Leber weg schwul sein. Auf dem Land gab und gibt es doch nur ängstliche Jugendliche und verbitterte und verängstigte
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