Die unsicherste aller Tageszeiten
Familienväter, die sich nachts auf Rastplätzen rumtreiben oder unter Schwimmbadduschen – und selbst das ist noch eine Lotterie, weiß man nie, ob man auch wirklich jemanden trifft. Das wollte ich nicht, wenigstens um meine sexuelle Befriedigung wollte ich mir keinerlei Sorgen mehr machen müssen. Deshalb ging ich erst nach Hamburg und später nach Berlin.
Wobei mich Berlin eigentlich immer schon stärker angezogen hatte als Hamburg, nur lag die Hansestadt einfach näher dran an dem, was ich bereits von zu Hause her kannte. Berlin hat so viele unterschiedliche Phasen erlebt, helle wie dunkle, hat für ein paar Jahrzehnte sogar ganz offensichtlich mindestens doppelt existiert, und sie ist sowieso ein einziger Flickenteppich der verschiedensten Kieze und Milieus, eine so starke Vermischung von Kontrasten, wie es kaum ein zweites Mal auf dem Globus vorkommt. Für einen Maler wie mich also genau der richtige Ort.
Dabei kannte ich Berlin, als ich herzog, in Wirklichkeit kaum, mehr vom Hörensagen als durch persönliche Erfahrung. Drei kurze Reisen hatte ich bis dato hierher unternommen, allesamt Wochenendtrips, die sich mehr in der Nacht denn am Tage abgespielt hatten, in schummrigen Bars und abgedunkelten, saunaheißen Kellern, in denen man sich nicht gerade traf, um über das Gespräch miteinander bekannt zu werden. Drei Wochenenden Exzess, und genau so hatte es ja auch sein sollen. Und dennoch hatte ich nebenbei auch einen Eindruck von der ungeheuren Ausdehnung dieser Stadt erhaschen können, der sie ihren fragmentierten Charakter verdankt. Im großen grauen Berlin kann man verloren gehen wie in einem großen grünen Wald, in dem die Bäume so hoch gewachsen sind, dass sie den Himmel verdrängt haben, Sonnen- und Mondlicht aussperren und einem jede Orientierung nehmen. Im stets dämmrigen, dunstigen Berlin navigiert man nicht anhand der Sterne, folgt nicht Flussläufen in die gewünschte Richtung oder lässt sich mit dem Wind von einem Fleck zum nächsten treiben, in diesem Berlin, das unter dem Firmament wie begraben liegt, sieht, hört und riecht man nicht, um seinen Weg zu finden, hier tastet man sich voran. In Berlin gibt es von allem einfach zu viel, deshalb ist man ständig überreizt und darüber blind und taub und unempfindlich gegenüber Gerüchen geworden, und der einzige Sinn, der einem noch verblieben ist, ist der Tastsinn. In Berlin sind die Menschen Maulwürfe, die nur mehr wahrnehmen können, was sie mit ihren Fingerspitzen berühren. Fingerspitzen aber haben kein Gedächtnis, sie sind vergesslich und sowieso ständig wund von all den rauen Oberflächen, den Hauswänden, dem Straßenpflaster, der Haut, über die sie gleiten und die sie ritzen und bluten machen. Jede Berührung ist hier mit einem Quäntchen Schmerz verbunden, des Reizes dieser Stadt. So erscheint Berlin immer wieder unverbraucht, ja, unbekannt, ein sich ständig erneuerndes Mysterium, das einfach nicht zu enträtseln ist und niemals langweilig werden kann. Manchmal habe ich diesen Moloch über, wenn mal wieder alles in Scherben liegt, dann will ich nur noch raus, dorthin, wo es Einfachheit und Klarheit gibt, also aufs Land oder die Insel, bis ich mich wieder einigermaßen gereinigt und in der idyllischen Eintönigkeit genügend Buße getan zu haben glaube und heimkehre mehr als vergesslicher denn reumütiger Sünder.
Mein Galerist, ganz Pragmatiker und untertäniger Arbeiter im Weinberg der Kunst, hatte natürlich nichts gegen einen Umzug nach Berlin einzuwenden. Ich würde sogar sagen, er begrüßte diese Entwicklung, denn er erwartete sich davon einen neuen kreativen Schub, neue Bilder, weitere Meisterwerke und noch höhere Preise auf dem Markt. Zuletzt hatte mein Arbeitspensum nämlich etwas nachgelassen, was er mit einiger Sorge registriert hatte, obwohl oder vielleicht auch weil eigentlich er indirekt dafür verantwortlich war. Denn er hatte ja den Kontakt zu Klaus, einem seiner treuesten und solventesten Kunden, her- und uns einander vorgestellt. Er hatte darauf gedrängt, dass ich mich diesem Herrn Brandstätter gegenüber anständig benähme, aber wohl nicht gewollt, dass ich mich ausgerechnet in ihn verliebte. Auf einer Party war das gewesen, veranstaltet von einem stadtbekannten schwulen Sammler, ein wenig sogar zu meinen Ehren, denn ich war das Gesprächsthema der Saison und vielleicht ja auch ein echter Dauerbrenner, auf jeden Fall eine gute Investition. Klaus war ebenfalls unter den Gästen, und es war Liebe auf den
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