Die unsicherste aller Tageszeiten
kam mir dann auch noch der Zufall zur Hilfe. Das Glück des Tüchtigen nennt man das wohl. In einer Bar ließ ich mich von einem Mann aufreißen, den ich mit zu mir nach Hause nahm. Ich hatte Sex mit ihm und ließ ihn sogar in meinem Bett übernachten. Mitten in der Nacht wachte ich vom Lichtschein meiner Schreibtischlampe auf, in dem er, tief über meinen Schreibtisch gebeugt, saß. Er bemerkte mich überhaupt nicht, wie ich aufstand, hinter ihn trat und ihm über die Schulter blickte, um endgültige Gewissheit darüber zu erlangen, was ihn so fesselte. Ebenso starr vor Entsetzen wie vor Entzücken blätterte er die Mappe mit meinen Radierungen durch.
Die Radierungen zeigen Gewalt, im wahrsten Sinne des Wortes nackte, über die Maßen grausame Gewalt. Die gesamte, aus fünfundvierzig Einzelblättern im DIN A3-Format bestehende Serie zeigt in skizzenhaften Szenen Personen zumeist männlichen Geschlechts, bald nur eine, bald zwei, bald eine ganze Gruppe, die sich gegenseitig mit allen nur erdenklichen und alltäglichen Mitteln foltern. Der Clou an ihnen aber ist, dass man diese Wahrheit erst erkennt, wenn man ganz nah an die Darstellungen herantritt. Vorher, aus einiger Entfernung betrachtet, scheint alles an ihnen liebreizend zu sein, ein einziger Reigen zärtlicher Menschen, und es geht einem das Herz dabei auf. Alles an diesen Bildern ist so nackt und ungeschönt wie das wahre Leben, und dennoch ist es so, als fänden alle brutalen Handlungen wie hinter einem Schleier statt, dem Schleier der menschlichen Unaufmerksamkeit und Oberflächlichkeit, mit dem vor Augen wir alle eben durch unser alltägliches Leben laufen. Erst ködere ich den Betrachter mit dem, was er so unbedingt gerne sehen möchte, die heile Welt, und dann, wenn er mir am Haken zappelt, ziehe ich den Vorhang beiseite und konfrontiere, ja, erschlage ihn mit der Wahrheit. Eine so perfide wie geniale Schule des Sehens sei das, meinte dazu einmal ein Kritiker der
Zeit
. Was aussieht wie ein onanierender Mann kurz vor dem Höhepunkt ist tatsächlich ein Verzweifelter, der sich seinen Penis abzureißen versucht; zwei Männer, ein Stehender über einen Sitzenden gebeugt und ihn scheinbar mit einem Löffel fütternd, stattdessen rammt er ihm den Löffel wie ein todbringendes Instrument in den Rachen, während der andere seine Finger vor Schmerz und Gegenwehr so tief in des anderen Flanken krallt, dass bald nicht nur Blut fließt, sondern auch seine Nieren zerquetscht werden; die Gruppe von Gestalten, es könnten tatsächlich auch noch ein paar Frauen darunter sein, sehr androgyne, wie unfertig wirkende Gestalten jedenfalls, die einen wiederum sitzenden Mann tänzelnd umgarnen, ihn zu streicheln und liebkosen scheinen, stattdessen aber ihm das Fleisch von den Knochen ziehen und es verspeisen wollen, vielleicht um selber endlich zu vollständigen Menschen heranzureifen.
Inspiriert hatte mich dazu das Gemälde
Dante et Virgile aux Enfers
von William Adolphe Bouguereau, das ich erst wenige Monate zuvor so ausgiebig in Paris im Musée d’Orsay betrachtet hatte. Seiner ansichtig zu werden, gab mir endlich den Schlüssel in die Hand, um die Geisterbahn in meinem Kopf aufzuschließen und auszubeuten wie eine Goldmine. Und obwohl ich mich also mehr oder weniger eines alten Tricks bedient habe, um zum Erfolg zu kommen, ist es nicht übertriebenes Eigenlob und falsche Eitelkeit, wenn ich behaupte, diesen Effekt erst so richtig ausgearbeitet und verfeinert zu haben. Bouguereau mag sein Wegbereiter gewesen sein, aber ich bin sein Meister.
Meine Technik war sicherlich immer noch hie und da verbesserungswürdig, noch nicht so vollkommen ausgereift und perfekt wie heute, mein Talent allerdings schon damals unübersehbar, zumal für einen Mann vom Fach. Mein Liebhaber jedenfalls erkannte es sofort, und zwar mit seinem Verstand ebenso wie mit seinem Schwanz, der ihm halb erigiert unter der Tischplatte stand.
»Ich will dich haben«, sagte er nur atemlos.
»Gern«, antwortete ich und tat ganz cool. »Dann komm wieder zurück ins Bett, auf dem Schreibtisch ist es mir zu hart.«
»Lass den Blödsinn«, sagte er, folgte mir aber trotzdem und trieb es mit mir mit einer klaren Härte, die unsere nachfolgende Geschäftsbeziehung sowohl vorwegzunehmen schien als auch besiegelte.
Denn der Mann war Galerist, und das hatte ich gewusst. Als ich ihm erlaubte, mich aufzureißen, geschah dies nicht nur wegen seiner körperlichen Reize, die jedoch allein schon ausgereicht hätten,
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