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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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Parade.
    »Du bist spät«, sagte er, ohne von seiner Zeitung aufzublicken. »Hast mal wieder getrödelt, was?«
    »Ich …« Er hatte mich kalt erwischt. Ich kam gerade von einer Extratrainingseinheit Tennis bei meinem Trainer Karsten nach Hause, die deshalb so lange gedauert hatte, weil sie unter der Dusche im Vereinsheim noch eine ganz spezielle Fortsetzung erfahren hatte. Ich glühte immer noch von seinen Berührungen, meine Lippen brannten vor Sehnsucht nach seinem Kuss, auf meiner Zunge lag der Wunsch, für immer mit ihm zusammen sein zu können. Und meinem Vater fiel nichts Besseres ein, als mir dumme Vorwürfe zu machen! Er verstand mich einfach nicht! Sofort kochte ich vor Wut.
    »Du solltest doch die Garage aufräumen, die Sauerei entfernen, die du da letztens mit den Spraydosen angerichtet hast. Ich will dieses Graffiti nicht an meiner Werkstattwand haben!«
    »Es heißt nicht Graffiti, sondern Graffito, Einzahl, schließlich ist es ja nur eins.«
    »Jetzt werd nicht frech, Freundchen, sonst setzt es was.« Dass das keine leere Drohung war, zeigte sich im Herabsinken der Zeitung auf die Tischplatte und im Ballen der Fäuste. Es setzte zwar nicht mehr so oft Ohrfeigen wie früher, aber nur, weil ich mit der Zeit gelernt hatte, meinen Vater nicht über seinen Siedepunkt hinaus zu reizen.
    »Es ist mir egal, wie viele das sind«, fuhr er fort, und seine Stimme wurde böse. »Du gehst jetzt sofort raus und wäschst das Ding von meiner Wand, verstanden! Und wehe, du kriegst es nicht mehr ganz ab, dann setzt es aber was. Dann beauftrage ich eine Spezialreinigung – und die darfst du von deinem Taschengeld bezahlen!«
    »Das ist Kunst. Aber davon verstehst du ja nichts.«
    »Das ist eine Schmiererei, sonst nichts. Ich will keinen halb nackten Mann an meiner Werkstattwand haben, kapiert! Und jetzt sieh zu, dass du Land gewinnst.«
    »Ich geh ja schon …», erwiderte ich und merkte, wie meine Stimme tiefer, dunkler, ebenso böse wurde wie seine. So hätte das hier ganz und gar nicht ablaufen sollen. Einen Moment dachte ich darüber nach, mein Vorhaben abzublasen, resigniert genug dazu war ich. Aber besser wäre es später auch nicht gelaufen, das begriff ich ebenfalls sofort, und deshalb zog ich es durch. »Vorher hab ich euch aber noch was zu sagen: Ich bin schwul!«
    Ich kann gar nicht sagen, welche Reaktion ich wirklich erwartet hätte: Gebrüll? Schläge? Tränen? Eine jede Angst und Aufregungen tilgende liebevolle Umarmung? Alles wäre vielleicht möglich gewesen, stattdessen antwortete mir nur ungläubige Stille. Das war noch weitaus unangenehmer und beängstigender als alles, was ich mir vorher ausgemalt hatte. Ich war mit einer Nussschale von Boot auf den großen weiten Ozean herausgetrieben worden, kein Land mehr in Sicht, nirgends, und ein riesiges Sturmsystem schob sich vom Horizont her langsam, aber sicher auf mich zu.
    Mein Vater ballte erneut seine schwieligen Hände zu Fäusten, er stierte mich mit weit aufgerissenen Augen an, konnte nicht einmal mehr blinzeln, weil sich seine Lider in einer Mischung aus Überraschung, Erschrecken und Wahrheitsverweigerung zusammengezogen hatten. Es kochte in ihm, das konnte ich zu gut erkennen, und ich fürchtete seinen Ausbruch, denn wenn mein Herr Papa mit einer Sache nicht gut zurechtkommt, dann ist es Verweigerung.
    Doch es knallte nicht an diesem Tag zwischen uns beiden und auch später nicht mehr. Dafür sorgte ausgerechnet meine Mutter, die geduldige und fügsame Dienstmagd unserer Familie. In ihr, diesem geistigen Heimchen hinterm Herd, steckte mehr, als ich jemals vermutet hätte. Zumindest ein gehöriges Talent für geheime Diplomatie, denn bevor mein Vater sich auf mich stürzen konnte, legte sie ihm die erbsenschotengrüne Hand beruhigend auf den Arm und sagte, ihn ansehend und in erster Linie mich meinend:
    »Darüber sprechen wir ein anderes Mal. Jetzt gehst du erst mal raus in die Garage und tust, was dein Vater von dir verlangt hat.«
    Ich tat, wie mir geheißen, und wähnte mich eine Woche lang auf der sicheren Seite, obwohl mein Vater in dieser Woche kein einziges Wort mit mir sprach und meine Mutter auch nur das Nötigste, die beiden untereinander aber ständig am Tuscheln waren. Ich sah das dicke Ende nicht kommen, weil ich es nicht kommen sehen wollte. Mit Mühe entfernte ich das Graffito, das vage, weil misslungene, Ähnlichkeit mit meinem Trainer Karsten aufwies, von Papas Garagenwand, nur ein paar bunte Schatten waren zurückgeblieben, und

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