Die unsicherste aller Tageszeiten
beschossen, von dem ich zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt keine Ahnung hatte. Ich hatte mich bis zu diesem Zeitpunkt kaum jemals mit homosexueller Theorie und Historie auseinandergesetzt, nur mit ihrer praktischen Seite. Bisher kannte ich bestenfalls schmutzige Witze und ekelhafte Schimpfworte – und im Gegensatz dazu meine eigenen Erfahrungen, die einfach nur wunderschön waren. Bisher hatten mich weder das christliche Höllenfeuer noch die rabiate Praxis der Germanen, Schwule im Moor zu versenken, noch ein ominöser § 175, der schwules Leben noch bis in die Mitte der Neunzehnhundertneunzigerjahre hinein geißelte, sonderlich interessiert. Ich hatte einfach nur mit dem Mann, der mich begehrte und den ich begehrte, zusammen sein wollen. Das wusste ich, und noch etwas wusste ich mit absoluter Sicherheit: Das war nicht nur eine Phase, das war mein Leben.
»Das wird nicht vorübergehen, niemals«, zerstörte ich mit allem mir möglichen Nachdruck die seltsame Hoffnung meiner Mutter.
»Woher willst du das wissen? Du bist erst fünfzehn, du weißt doch nicht, was später alles passieren wird. Eines Tages kommt das richtige Mädchen, und dann wird alles …«
»Da kommt bestimmt kein Mädchen mehr.«
»Wenn du dafür nicht offen bist, dann natürlich nicht.« Meine Mutter klang jetzt etwas maulig-ärgerlich ob ihres störrischen Kindes.
»Was soll das denn jetzt heißen?«
»Einfach nur, dass du dich nicht jetzt schon festlegen sollst.«
»Ich bin schwul.«
»Nein, bist du nicht.« Mein Vater schnaubte dazwischen. »Du hast nur gerade nicht mehr alle Tassen im Schrank.«
»Doch, ich bin schwul!«
Es war zum Haareraufen, ich schrie gegen eine Wand an. Wollten oder konnten sie mich wirklich nicht verstehen? Warum hatten sie so ein Problem damit, es war doch mein Leben, um das es hier ging? Mein Leben, und sie entmündigten mich.
»Und da bist du dir ganz sicher?«, hakte meine Mutter nach.
»Ja.«
»Du willst also wirklich schwul sein?«
»Ja.«
»Tut mir leid, aber das können wir nicht akzeptieren.«
Die Entschiedenheit in ihren Worten ließ mich augenblicklich alle Farben und Temperaturen wechseln. Auf einmal fühlte ich mich in einer perfiden Falle gefangen.
»Was soll das heißen?«, fragte ich ganz vorsichtig.
»Dein Vater und ich haben darüber gesprochen«, erklärte Mutter mir, »und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass das so nicht weitergehen darf. Wir haben auch eingesehen, dass wir dir in dieser Sache nicht wirklich helfen können. Du brauchst professionelle Hilfe. Und deshalb haben wir entschieden, dich zu einem Psychiater zu schicken.«
»Bitte?« Ich quiekte auf wie ein Schwein, dem man gerade das Schlachtermesser an die Kehle setzt.
»Wir schicken dich zu einem Psychiater«, wiederholte Mama so geduldig, als hätte ich sie einfach akustisch nicht richtig verstanden. »Wir haben auch schon einen für dich gefunden.«
»Nein! Ich gehe nicht zu einem Psychiater.« Ich rückte erschrocken mit dem Stuhl vom Tisch ab, er quietschte erschrocken auf dem ebenfalls erschrockenen abgewetzten Linoleum.
»Doch, das wirst du«, drohte mein Vater.
»Nein!«
»Setz dich wieder hin, wir sind noch nicht fertig.«
»Nein. Ich gehe nicht zu einem Psychiater. Ich bin doch nicht verrückt. Ihr seid hier die Verrückten!«
»Setz dich sofort wieder hin! Du wirst zu diesem Psycho-Typen gehen und dir diese Schande, diese Krankheit, die du denkst zu haben, austreiben lassen. Und wenn ich dich hinprügeln muss. Mein Sohn ist keine Schwuchtel. Mein Sohn ist kein Kinderficker!«
Er schrie seine größte Angst aus sich heraus, und danach erbleichten wir alle drei. Was man unter einem ›Kinderficker‹ verstand, hatte ich schon frühzeitig aus dem Kindertratsch auf dem Schulhof gelernt und später aus den Medien. Und es war die falscheste Unterstellung, die es nur geben konnte. Ich sehnte mich ja nicht nach kleinen Jungs, sondern nach erwachsenen Männern, nach der Liebe erwachsener, körperlich voll ausgereifter Männer. Oder zumindest eines einzigen Mannes. Den ich ja auch schon gefunden hatte. Aber das konnte ich meinem Vater nicht sagen, nicht nach seiner Drohung, jedem auf die eine oder andere Art und Weise an die Gurgel zu gehen, der mich seinem Empfinden nach verführt hätte.
»Und wir wollen auch nicht, dass du an AIDS stirbst«, versuchte meine Mutter die Wogen wieder etwas zu glätten.
»Ich … was?«
»AIDS. Die sterben doch gerade alle daran.«
Was hatte denn Liebe mit AIDS zu tun? Das
Weitere Kostenlose Bücher