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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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mein Vater diesen Vorschlag für einen Moment ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Er sah zum Fenster, starrte nach draußen, ballte schon seine Hände zu Fäusten an der Tischkante, um sich in den Stand zu hieven – und blieb dann doch auf seinem Hintern sitzen, zu peinlich berührt. Seine Lippen lagen zu einem dünnen Strich zusammengepresst aufeinander, in seiner Wangenmuskulatur arbeitete es nervös, er wandte meiner Mutter minimal den Kopf zu und zischte: »Fang an.«
    Sie nickte ebenso minimal, warf einen letzten langen Blick auf ihre Notizen, bei dem es mir abwechselnd heiß und kalt wurde, dann sah sie mich direkt an, und mir war nur noch kalt.
    »Wir haben dich taufen und konfirmieren lassen, und wir haben dich auf ein Gymnasium geschickt, weil wir wollten, dass du den bestmöglichen Start ins Leben bekommst, der überhaupt nur möglich ist. Wir haben für dich und deine Geschwister geschuftet und auf viele Dinge verzichtet, damit ihr es einmal besser habt als wir.« Sie atmete tief durch, als läge ihr eine ungeheuer schwere Last auf der Brust, als bereitete ihr allein schon das Unverständnis darüber, mir so deutlich diese Lektion auseinandersetzen zu müssen, tatsächlich Schmerzen. »Du solltest also wissen, was richtig und was falsch ist. Du weißt, was die Bibel sagt, du weißt, was die Geschichte sagt, du kennst die gegenwärtige politische Lage. Und auch wenn du vielleicht nicht an die Hölle glaubst und an ewige Verdammnis, und auch wenn wir uns hier heute nicht mehr so schrecklich aufführen wie die alten Germanen, die Leute wie dich im nächsten Moor versenkt haben, so wirst du doch immer Gefahr laufen, ausgegrenzt und sogar tätlich angegriffen zu werden, wenn du diesen Weg weiter verfolgst. Dann wirst du niemals einen guten Job bekommen, du wirst immer am Rande der Gesellschaft leben, und wildfremde Leute werden dir hinterherrufen, dass man Leute wie dich damals vergast hätte und das heute am besten auch noch tun sollte.«
    »Du meinst Leute wie Opa Heinrich, Gott sei seiner Seele gnädig?« Papas Vater war bei der SS gewesen, davon hatte er bis zu seinem Lebensende geschwärmt, wenn zum Beispiel übermäßiger Alkoholgenuss seine Selbstbeherrschung unterminiert hatte.
    »Lass deinen Opa aus dem Spiel, der hat mit dieser Sache nichts zu tun!« Der Befehl kam von meinem Vater, der für gewöhnlich seinen herrenmenschelnden Vater noch mehr verabscheute als ich, für den Familie nie etwas anderes gewesen war als eine Mischung aus Lebensborn und Diktatur nach dem Führerprinzip im Kleinen.
    »Außerdem gibt es da immer noch diesen Paragrafen 175«, fuhr meine Mutter mit eiserner Stimme fort, unser kleines Scharmützel beendend. »Du hast nicht einmal das Recht auf deiner Seite.«
    »Homosexualität ist doch nicht mehr verboten!«
    »Mag sein. Aber wenn du dich in deinem Alter mit einem erwachsenen Mann einlässt, egal ob freiwillig oder nicht, dann begeht der andere an dir eine Straftat.«
    »Und das sag ich dir, Freundchen«, schaltete sich mein Vater wieder ein, »wenn mir so eine Geschichte zu Ohren kommt, wenn ich höre, dass sich irgend so ein Schwein an dir vergriffen und dich dazu verführt hat, dann kriegt der es mit mir zu tun.«
    »Und was ist, wenn ich ihn verführt habe?«
    »Was willst du damit sagen?« Nur die Tischkante hielt ihn davon ab, sich auf mich zu stürzen.
    »Nichts. Wollte nur sehen, wie du reagierst.«
    »Ich lang dir gleich eine!« Stattdessen plumpste er zurück auf seinen Hintern wie ein vom Strick geschnittener Erhängter.
    »Du bist noch jung«, hielt Mama die Eskalation ein weiteres Mal auf, »du kannst dich noch ändern. Vielleicht ist es nur so eine Phase, die vorübergeht.«
    Heute weiß ich, dass meine Mutter damals tatsächlich eine ganze Woche lang in der Bibliothek und zu Hause über Büchern und Artikeln gebrütet hat, um etwas über Homosexualität, ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ihre Geschichte und Perspektive für den einzelnen Betroffenen zu lernen. Weil sie aber mit einer negativen Sicht darauf an die Dinge gegangen war, hatte sie natürlich auch nur negative Informationen gesammelt und alle ihre Ängste und Befürchtungen bestätigt bekommen. Sie, die ungläubige Protestantin, die bestenfalls wegen einer Beerdigung in die Kirche ging, die sich kaum für Geschichte interessierte und noch weniger für das tagespolitische Geschehen, hatte sich mit der feucht gewordenen Munition altbackener Moralapostel ausgerüstet und mich mit einem Wissen

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