Die unsicherste aller Tageszeiten
nächster Nähe anzuschauen, wie einer dem anderen etwa langsam mit einer Bohrmaschine einen Bohrer durchs Auge treibt. Einfach nur so, wie es aussieht, weil er die Gelegenheit dazu hat und es ihm Spaß macht, weil er schon immer mal davon geträumt hat, so etwas zu tun. Dieses Genre wird ›torture porn‹ genannt, und ich kann verstehen, was die Menschen daran so anziehend finden: das Was-wäre-wenn-Gedankenspiel. Würde ich es wirklich tun, wenn ich es könnte, würde ich all die antrainierten Hemmungen, die mich sonst selbst im Moment größten Ärgers zurückhalten, endlich über Bord werfen können? Ich für meinen Teil kann diese Frage mit einem klaren Ja beantworten, ich habe es getan und tue es andauernd, wenn auch ›nur‹ in meinen Bildern. Insofern sind sie wirklich sehr stark autobiografisch.
Diese Bilderserie hat von mir keinen eigenen Titel verliehen bekommen, jedes einzelne Bild schon, aber die Serie als Gesamtes nicht. Mir ist einfach nichts Passendes eingefallen, im Angesicht der dargestellten Grausamkeit war mir jeder mögliche Titel geradezu banal vorgekommen, entweder als nicht groß genug oder, wenn groß genug, dann zu pathetisch-überladen, alles schon wieder ins Lachhafte ziehend. Also sah ich davon ab und ließ, als hätte ich dies vorausgesehen, die anderen die Arbeit machen. Heute trägt die Serie den in meinen Ohren Ehrentitel: ›torture porn origins‹.
Ich fühle mich unglaublich geehrt davon, dass es da eine Handvoll amerikanischer Regisseure gibt, die sich auf mich als ihre Inspiration beruft. Es stört mich nicht einmal, dass sie in ihrer Arbeit den feinen Schleier, der bei mir noch immer den allzu unvorsichtigen Betrachter vor einem schlaganfallschnellen Schockzustand bewahrt, in Fetzen reißen und wegwerfen, um nun ganz unverhüllt ihre Gewaltpornografie den darum bettelnden Massen vorzuführen. Es interessiert mich nicht, was das über unsere Gesellschaft aussagt, ich bin einfach nur stolz wie Bolle, für all das die Quelle zu sein, der Ursprung, das Original. Das kann mir keiner mehr nehmen.
Die Uhren schlagen zwölf Uhr Mittag. Aus sämtlichen Kirchtürmen ergießt sich Glockengeläut wie ein kalter, harter Starkregenschauer über die Stadt: des Menschen metallen dröhnende Mahnung an seine Mitmenschen, immer daran zu denken, dass es da noch eine höhere Möchtegernmacht gibt, die im Hintergrund die Strippen zieht, nämlich die Kirche selbst – auf einem meiner drastischeren Bilder, ganz am Ende der ›torture porn origins‹-Serie entstanden, hängt ein Pornohengstjesus an einem brennenden Kreuz, angezündet von einer ganzen Bischofskongregation, und zwar mit den segnenden Flammen, die sie aus ihren Mündern und Eicheln verschießen – das hat vielleicht ein ›Hallo‹ gegeben und ein völlig nutzloses noch dazu.
Mein Galerist ist wieder einmal spät dran, er hätte eigentlich jetzt seinen Laden öffnen sollen, zumindest laut den Öffnungszeiten an der Tür: ›Di–Sa 12:00–18:00 Uhr und nach Vereinbarung‹. Seitdem er die Exklusivrechte an meinem Werk erworben hat, kann er es sich leisten, nach Lust und Laune zu arbeiten. Gut für mich, so kann ich hier wieder ungesehen verschwinden. Eine Begegnung mit ihm würde mich nur unnötig aufhalten, er hat so eine Art, die Leute festzuhalten und ihnen Dinge aufzunötigen, die sie gar nicht wollen. Das fängt mit einem harmlosen Kaffee an, geht über in ein Gespräch und endet, ist man ein Kunde, in einem teuren Einkauf oder, gilt man als Freund, Vertrauter oder Klient, in einem regelrechten Verhör und Aushorchen auch noch der intimsten persönlichen Details. Er nennt es Anteilnahme, ich seine inquisitorische Ader. Er würde sehr schnell herausgefunden haben, warum ich ohne jede Vorankündigung auf seiner Türschwelle aufgetaucht bin. Darüber will ich aber auf gar keinen Fall sprechen, schon gar nicht mit ihm. Denn was käme dabei schon herum? Nichts. Sobald er merkt, ich rede von meinen aufgepeitschten Gefühlen, würde er sowieso gleichgültig werden und sich mit einem zufriedenen und zugleich gelangweilten Lächeln abwenden. Zufrieden, weil er überzeugt ist, dass mein seelisches Ungleichgewicht gut für meine Kunst und seine Kasse ist, gelangweilt, weil er eben unfähig ist, mit Gefühlen umzugehen. Daran hat sich auch in all den Jahren unserer Bekanntschaft nichts geändert. »Du erlaubst dir aber auch immer wieder Schoten, meine Herren«, würde er saftlos zu der Geschichte von letzter Nacht sagen und sich anderen
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