Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
Vom Netzwerk:
spät es ist, und will es auch gar nicht wissen. Mich interessiert nicht, ob ich eventuell meinen Zug verpasse, denn ich bin ja, aufgrund der fehlenden Reservierung, auf keinen bestimmten festgelegt. Und ich will auch gerade nicht in einen Zug steigen und nach Föhr fahren. Nicht etwa, weil ich schon wieder kurzfristig meine Pläne geändert hätte, sondern weil ich es gerade nicht ertragen könnte, für die nächsten ein oder zwei Stunden in so einer fahrenden Sardinenbüchse eingesperrt zu sein.
    Gerade brauche ich etwas Luft. Moosige, harzige Waldluft wäre mir am liebsten, keine Frage, nur die gibt es mitten in der Stadt natürlich nicht. Dafür aber Wasser, viel Wasser sogar, mehr als in Berlin mit seiner popeligen Spree. Auch Wasser heißt Natur heißt Freiheit heißt Menschenleere heißt Gefahrlosigkeit. Die Binnenalster ist ganz nah. Und dort gehe ich hin, gesenkten Blickes, ich kenne den Weg und finde ihn mit Leichtigkeit wieder, auch ohne aufzuschauen. Manchmal remple ich dabei einen Passanten an, was folgenlos bleibt, obwohl ich mich nicht mal umdrehe, kurz aufschaue und mich entschuldige. In Berlin würde man mich schon zigmal angepöbelt haben, dankbar dafür, die eigene schlechte Laune an einem Unbekannten auslassen zu können. Die Hamburger dagegen sind viel reservierter, sie verschanzen ihren Ärger, nicht hanseatisch spröde, sondern hanseatisch arrogant, gerne hinter ihrem vorgeblich edlen Pfeffersackgehabe: Der Kunde ist König, denn am Ende zahlt er die Rechnung so oder so.
    Allerdings komme ich dann gar nicht wirklich bis ans Wasser, dafür müsste ich noch die Straße überqueren. Ich kann es riechen und die Fontäne in der Mitte des grob trapezförmig angelegten Beckens hören und könnte es auch sehen, wenn ich nicht mit dem Rücken dazu stehen würde. Stattdessen blicke ich auf einen Haufen moderner Kunst, manches davon sogar recht gut, ein paar der Skulpturen und Gemälde von mir persönlich bekannten Kollegen angefertigt. Ich stehe vor dem großen Schaufenster der Galerie meines Galeristen, und der Ärger über diese eigentlich vorhersehbare Wendung der Dinge hält sich deshalb auch in Grenzen. Immerhin lässt sein Erfolg auch Rückschlüsse auf meinen eigenen zu, denn bevor er sich als mein Entdecker rühmen konnte und damit selbst zumindest so etwas wie Semi-Berühmtheit erlangte, war seine Geschäftslage weitaus weniger prominent. Vorher war er oberer kunsthändlerischer Mittelstand, nachher ein Global Player. Diese Exklusivität jetzt hat er im Wesentlichen mir zu verdanken. Ich habe also jedes Recht, vor seinem Laden zu stehen und mir die Nase am Schaufenster platt zu drücken, es ist auch mein Werk. Buchstäblich übrigens, und deshalb ist auch das Naseplattdrücken mehr oder weniger wörtlich zu verstehen.
    In der Galerie nämlich hängt auch ein Bild von mir, ganz hinten an der Wand, über dem Schreibtisch des Besitzers – das einzige unverkäufliche Stück Kunst in dem ganzen Raum. Es hängt dort hinten, nicht versteckt und doch von der Straße aus kaum zu erkennen, eben nur, wenn man, so wie ich jetzt, auf die lächerlichste Weise sein Gesicht an die Scheibe drückt, um nicht unnötig einen Skandal zu befördern. Sein Inhalt, mein gesamtes Werk eigentlich, wird sehr gerne von geltungsbedürftigen Privatpersonen, moralinsauren Kirchenmännern oder um die Gunst ihrer erbärmlich beschränkten Wähler buhlenden Politikern als nicht jugendfrei eingestuft, gar als jugendgefährdend, weil es Gewalt und Sex und Homosexualität fördere. Allesamt durchschaubare Manöver, und deshalb ist bisher auch jeder einzelne Versuch fehlgeschlagen, meine Kunst auf den Index setzen zu lassen. Trotzdem hat mein Galerist, dem ich es bald nach meinem Umzug nach Berlin geschenkt habe – in der Tat handelt es sich bei diesem Gemälde sogar um das erste Werk, das ich in meiner neuen Wohnung in der neuen Stadt geschaffen habe –, es vorgezogen, es nicht an allzu prominenter Stelle aufzuhängen, trotz allen Besitzerstolzes, trotz seines Wissens um die Werbewirksamkeit eines solchen Besitzes für seinen Betrieb. Zeigt es nicht, wie eng die Bindung zwischen Künstler und Kunsthändler ist? Allein es gilt, den zufälligen Passanten, den Flaneur, bar jeder Ahnung von Kunst, der aus purer Schaulust einen Blick durch das Schaufenster in das Innere dieser ihm vollkommen fremden Welt wirft, vor seinem verräterischen Anblick zu schützen. Ihm könnte nicht gefallen, womit er konfrontiert wird, was er da im Innern

Weitere Kostenlose Bücher