Die unsicherste aller Tageszeiten
erblickt – und sich beschweren. Radau war und ist die Antwort der in ihrer Geistlosigkeit Ertappten auf alles, was sie nicht verstehen und wovor sie sich fürchten, also auf alles und am meisten vor sich selbst.
Das Gemälde, ganz klassisch Öl auf Leinwand, meine liebsten Arbeitsmaterialien, einen Meter vierzig breit und einen Meter neunzig hoch, trägt den Titel
Ich und Du
und macht sich denselben Effekt zunutze wie auch meine Radierungen zuvor. Es ist die logische Weiterentwicklung meines Stils, von der Radierung zur Malerei hin zum Fotorealistischen. Von Weitem betrachtet sieht man vor einem warm anmutenden, beinahe cremefarbenen Hintergrund zwei nackte Männer, einer sitzend, der andere mit dem Rücken zum Betrachter halb vor ihm stehend. Sie wirken sehr intim miteinander, sehr vertraut darin, wie sich ihre Körper zueinander verhalten, wie sie einander anschauen. Außerdem ist der Schwanz des Sitzenden zur Hälfte steif. Tritt man dann aber näher heran und wagt ein genaueres Hinschauen, muss man erkennen, dass das Licht in dem Bild doch nicht so weich und die Figuren umschmeichelnd ist, dass es mit jedem Schritt darauf zu heller, steriler, härter wird und dass sich im scheinbar gleichmäßigen Hintergrund immer mehr unebene, graue, verfallene Stellen auftun. Das Gesicht des Sitzenden ist nicht mehr nur von Lust verzerrt, sondern ganz offensichtlich auch von Furcht, von erwartungsvoller Furcht, denn der Stehende hält etwas in der Hand, irgendeinen brutalen Gegenstand, den er mit seinem Körper vor dem Blick von außen abschirmt und nur seinem Opfer zeigt. Eine Leerstelle, die den Betrachter zwingt, diese mit den Auswüchsen seiner eigenen Fantasie zu füllen.
Zugegeben, das Vorbild Bouguereaus kommt hier noch sehr, sehr stark durch, die Anzahl der Personen, ihre Nacktheit, das Vexierspiel ihres Handelns, und verglichen mit dem, was ich dann in der Folge malte, mag es auch tatsächlich noch etwas unbeholfen wirken, wie ein Kritiker im
Hamburger Abendblatt
einmal bemerkte. Aber es zeigt den Künstler auch unverkennbar im Sprung auf die nächste Entwicklungsstufe, und die führte mich zumindest schon einmal bis an die Tore des Olymp – denn um wirklich den Olymp besteigen zu können, braucht es dann noch Zeit, nur Zeit, sonst nichts.
Der Sitzende trägt die Gesichtszüge meines Galeristen, das ist für jeden eindeutig und unverkennbar. Doch entspricht auch der Rest der Figur, Torso, Arme, Beine, Genitalien, ja sogar sämtliche Feinheiten ihrer Körperbehaarung, eins zu eins seinem Körper. Was solche Einzelheiten der männlichen Morphologie angeht, besitze ich ein fotografisches Gedächtnis. Von jedem Mann, der mir einmal etwas bedeutet hat oder noch immer etwas bedeutet und mit dem ich das Lager geteilt habe oder den ich, aus welchem Grund auch immer, einmal unbekleidet gesehen habe, kann ich aus der Erinnerung heraus ein genaues Bild der Landkarte seines Körperhaars zeichnen. Sicher, das ist auch ein Stück weit Fetisch bei mir, obwohl ich absolut nicht auf Bären stehe, nur eben auf sehr maskuline Typen.
Den Stehenden dagegen kann man kaum mit gleicher Sicherheit als meine Wenigkeit identifizieren, man sieht einfach zu wenig von ihm. Der leicht bedrohlich nach vorn gebeugte Rücken trifft keine Aussage, und die Haarfarbe allein reicht als Identifizierungsmerkmal nicht aus. Millionen Menschen in diesem Land haben ebenso schwarzes Haar wie ich und tragen es kurz. Selbst das ohnehin nur angedeutete Profil seines Gesichts gibt keinen ausreichenden Hinweis, denn es scheint seltsam verschattet, aus sich selbst heraus, von dem Ausdruck, den es zur Schau trägt. Wenn man mich nicht sehr genau kennt, weiß man nicht, dass ich wirklich so dreinschauen kann, und niemand darf mich darauf ansprechen, es sei denn, man ist mein allerengster Vertrauter und hat sich schon so manches von mir gefallen lassen müssen.
»Es ist die gleichgültig böse Herablassung«, sagte Klaus, nachdem er seinen Frieden mit mir gemacht hatte und des Bildes ansichtig wurde, »mit der du die Männer ansiehst, wenn du mit ihnen fertig bist, unmittelbar bevor du dich ihrer entledigst.«
Ich halte – bis heute – dieses Gemälde für das passende Geschenk für meinen Galeristen, um das nächste Stadium unserer Beziehung, die auf rein geschäftlicher Basis, der nicht einmal auch nur ein Hauch echter Freundschaft zugrunde liegt, zu besiegeln. Damals aber hätte ich es ihm beinahe wieder weggenommen, als er zum Dank einen dieser für ihn
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