Die unsicherste aller Tageszeiten
dort ein paar schöne Ferientage verbringen. Schöne Aussichten, wenn man bedenkt, dass ich auch den zweiten Streckenteil meiner Reise ohne Sitzplatzreservierung absolvieren muss.
KAPITEL 3
Nach einer halben Ewigkeit, die ich den Bahnsteig auf- und abwandernd totgeschlagen habe, fährt dann der Zug ein. Ich will als Erster nach drinnen stürmen, doch scheitere ich am allgemeinen Gedränge und speziell an einer jungen Frau mit einem Rucksack auf dem Rücken, der doppelt so groß ist wie sie selbst und mit dem sie nach allen Regeln der Kunst in der Tür hängen bleibt. Es ist der reinste Slapstick, und ich bin längst wieder auf hundertachtzig, als ich endlich in den Zug komme. Ich könnte schimpfen, schreien und spucken und schlage mich, kurz davor, die Beherrschung zu verlieren, durch die Menschenmassen in den Waggons wie ein Forschungsreisender durch den dichten, unbekannten, gefährlichen Dschungel. Mehr als einmal wird mir wütende Empörung hinterhergerufen.
Alle Plätze sind entweder schon besetzt oder reserviert. Und wo keine Menschen sitzen, stapelt sich turmhoch Gepäck. Ich kann zwar nicht verstehen, wieso man seinen gesamten Hausstand mit auf Reisen nehmen muss, sehe aber ein, dass die Ablagen, die die Bahn ihren Kunden in diesem Zug anbietet, einfach nicht für diese Gepäckmassen ausgerichtet sind. In den ICEs gibt es wenigstens noch spezielle Stauräume, in diesem alten IC dagegen nicht. Trotzdem ist es Futter für meine Wut, Wut, die sich spontan entlädt, als ich dann an einem Abteil vorbeikomme, in dem nur ein mittelaltes Ehepaar mit seinen zwei riesigen Doggen sitzt, deren feuchtes Fell den übelsten Gestank verbreitet. Schon an trockenen Tagen hasse ich Hunde abgrundtief, selbst zum Scheißen und Pissen muss man sie nach draußen vor die Tür begleiten. Als Lawinen-, Wach- und Hütehunde mögen diese Viecher noch eine gewisse Daseinsberechtigung haben, ebenso in einem chinesischen Wok oder in der Seifenfabrik, aber als Haustiere und ganz besonders als Reisebegleiter gehören sie einfach verboten! Besonders bei Regenwetter. Wie die Viecher stinken! Und dann steht die Abteiltür auch noch einen Spaltbreit offen und lässt den Gestank nach draußen auf den Gang strömen. Buchstäblich jeder, der daran vorbei muss, rümpft angeekelt die Nase. Mir mit dem ohnehin schon geschwollenen Kamm reißt endgültig der Geduldsfaden. »Tölen zu Tiermehl!«, schnauze ich, knalle die Tür ganz zu und ernte damit die lachende Zustimmung der Umstehenden.
Rücksichtsloser denn je schlage ich mich weiter durch den inzwischen bereits fahrenden Menschendschungel.
Ich lande schließlich in einem reinen Rentnerabteil, drei Frauen, ein Mann, die alle so aussehen, als wären sie gleich beim Bau des Zuges mit in die Sitze geschraubt worden. Das Ehepaar, das mir genau gegenüber sitzt, trägt typisch deutsches Rentnergrau, das auf mich immer einen so selbstmitleidigen, wie beleidigten Eindruck macht und zu sagen scheint: Wir haben unseren Spaß im Leben gehabt, aber keine Zugabe bestellt. Die Frau rechts neben mir am Fenster ist ganz in damenhaftes Witwenschwarz gewandet, die links neben mir am Gang sitzende gönnt sich ein paar kräftig-dunkle Farben, herbstliche Rot- und Brauntöne, und sogar dunkelroten Lippenstift und etwas Rouge, was sie mir zumindest ansatzweise sympathisch macht. Sie wirkt jedenfalls nicht so, als hätte sie schon aufgegeben oder sich ganz einer bestimmten Rolle hingegeben, als wäre sie immer noch mehr als nur welkes Fleisch, das zwecks besserer Konservierung für ein paar Tage oder Wochen zum Abhängen an die salzige Seeluft gekarrt wird. Von ihr geht etwas Aktives, Lebensbejahendes aus, was ich bei anderen Menschen schon immer als anziehend empfunden habe.
Draußen im Gang schieben sich noch immer unzählige Menschen entlang wie Blut durch eine verkalkte Arterie. Die Stimmung ist gereizt und bleibt es so lange, bis alle Reisenden irgendwie einen Platz gefunden haben, und wenn sie dafür eben auf ihren Koffern im Gang sitzen müssen, weil selbst das Bordrestaurant längst überfüllt ist. Die alten Leute um mich herum, von der eleganten Dame zu meiner Linken einmal abgesehen, mokieren sich noch ein Weilchen sowohl über die, die ohne Sitzplatzreservierung reisen, als auch über die Bahn, die mal wieder viel zu viele Fahrkarten verkauft habe. Ich breite meine Jacke wie eine Decke über mir aus und tue augenblicklich so, als würde ich schlafen. Die Alten sollen nur ja nicht auf die Idee kommen,
Weitere Kostenlose Bücher