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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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ruhiger, gnädiger, weil ich mich dann wieder erinnere, dass ich nicht nur Scheiße gebaut habe in meinem Leben, sondern auch etwas Vernünftiges geleistet habe. Immer wenn alle Stricke reißen und ich vor lauter Furcht selbst zum Arbeiten zu gelähmt bin, dann kann ich mich immer noch in mein Atelier, diesen verwünschtesten aller Traumorte, zurückziehen und dort Schutz und Geborgenheit empfinden, mich ausziehen und mir einen Schutzschild auf die nackte Haut malen, durch den weder etwas nach innen noch nach außen dringen kann, und das ätzende Brennen lässt mich wieder klarer sehen.
    Das geht hier an diesem Bahnhof weitab von zu Hause nicht. Der Atelier-Trick funktioniert nur zufällig, wenn ich in meinem Angstwahn die Haustür verfehle und stattdessen in meinen Arbeitsraum gerate. Dabei weiß ich ja ganz genau, dass mir die Lösungsmittel in einem solchen Fall viel besser helfen als die Suche nach Erlösung durch einen Heiland und Sex-Messias. Ich bin eben ein Maler, der eigentlich ganz genau weiß, über welche Fähigkeiten er verfügt, aber selbst ich nutze meine eigenen Möglichkeiten viel zu selten.
    Weil ich schon wieder Durst habe, Nachdurst vermutlich, kaufe ich mir an einem der zahlreichen Kioske eine Flasche stilles Mineralwasser. Ich trinke sie in zwei großen Zügen aus und werfe die Plastikflasche in den nächsten Mülleimer; was interessieren mich die paar Cent Pfand darauf. Und danach weiß ich nicht mehr, was ich hier noch mit mir anfangen soll. Mir ist nicht nach Shoppen oder nach einem schnellen Mittagessen, ich will auch Klaus nicht besuchen oder doch noch einmal zurück zur Galerie, um mich von meinem Galeristen aushorchen zu lassen. Ich kann nur noch warten, und dafür geht mir einfach jedes Talent ab. Warten heißt nichts anderes als auf sich selbst zurückgeworfen, aus dem Verkehr gezogen zu sein und stillzustehen, während alles um einen herum unermüdlich in Bewegung ist, tut und macht, frei ist von allen Fesseln. Dieses Gefälle zwischen mir und den anderen gefällt mir nicht, ich kann mit diesem Gefühl, benachteiligt zu sein, nicht sonderlich gut umgehen. Dann komme ich auf dumme Gedanken und mache so dumme Sachen wie die letzte Nacht.
    »Du willst nicht einfach immer nur das größte oder beste Stück vom Kuchen haben, die willst gleich den ganzen Kuchen haben, und zwar für dich allein, und hast du ihn bekommen, dann neidest du den anderen auch noch ihre leeren Teller«, höre ich – nein, ausnahmsweise mal nicht Klaus sagen, sondern meine kleine Schwester, die inzwischen ihr Maschinenbaustudium abgeschlossen hat und Karriere in einer sehr von Männern dominierten Industrie macht. Kunststück, wenn man mit drei älteren Brüdern, die sich nie grün waren, und einem cholerischen Vater aufgewachsen ist, der nie begreifen konnte, warum für seine Kinder sein Wort nicht ebenso unterdrückendes Gesetz war wie das seines Vaters für ihn.
    Für einen Moment denke ich doch ernsthaft darüber nach, noch einmal aufs Bahnhofs-WC zu verschwinden, zu sehen, ob da irgendwas geht. Mit aller Kraft reiße ich mich zusammen und beschließe, die wuselnden, gehetzten und zum Gutteil überforderten Reisenden um mich herum zu ignorieren und jetzt gleich meinen Bahnsteig aufzusuchen. Vielleicht kann ich auf einer der Bänke sitzen und dem Lärm um mich herum durch Meditieren entfliehen.
    Genauso wenig wie ich meditieren kann, dafür fehlen mir sowohl die innere Ruhe als auch das Wissen um die nötigen Entspannungstechniken, finde ich noch einen freien Platz auf dem Bahnsteig an Gleis 11a/b. Entweder sitzen auf ihnen Rentner, denen die Angst, sie könnten ihren Zug verpassen oder eventuell sogar schon verpasst haben, ins faltige Gesicht geschrieben steht, oder gestresste junge Eltern mit plärrendem Säugling in der sperrigen Karre – das wird noch ein Spaß werden, die in den überfüllten Zug zu hieven – und wie auf Speed herumtobenden Kleinkindern, die einfach nicht von der Bahnsteigkante wegkommen wollen, oder eine riesige Reisegruppe Jugendlicher, ich tippe auf irgendwas Christliches, sie haben mindestens zwei Klampfen dabei und die eine auch schon ausgepackt, die sogar noch einen ziemlich gesitteten Eindruck machen, wohingegen ihre erwachsenen Betreuer schon jetzt wegen des erwarteten Kontrollverlustes kurz vor dem Nervenzusammenbruch stehen. Und sie alle haben Unmengen an Gepäck dabei. All diese Leute mit all ihrem Krempel wollen in denselben Zug wie ich, alle wollen sie rauf an die Küste und

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