Die unsicherste aller Tageszeiten
Dingen zuwenden.
Trotzdem verspüre ich jetzt den starken Drang, mit jemandem zu reden, zu beichten, wenn man so will. Vermutlich die vom Erbauer erwünschte Wirkung der Kirchenglocken auf ein angeschlagenes Gemüt wie das meine: Das Raubtier greift sich auch nur die kranken und schwachen Tiere aus der Herde, weil es weiß, dass die gesunden Tiere zu stark für es sind. Aber im gleichen Maße, wie das Geläut langsam im trüben Hamburger Herbstmittagshimmel versickert, nimmt auch mein Bedürfnis nach einer Aussprache ab. Deshalb gehe ich nicht in eins der Gotteshäuser aus rotem Backstein – für einen Protestanten ist das mit der Beichte ja sowieso etwas schwierig – und mache mich auch nicht auf den Weg zu Klaus, ihn in seinem Büro nicht allzu weit von hier entfernt überraschend zu besuchen. Denn auch seine Freude würde schon nach kürzester Zeit tiefer Sorge um mich weichen, die scheinbar als eine Ewige Flamme in seinem Herzen für mich brennt. Und auch wenn es mir leichter fällt, ihm Lügengeschichten aufzutischen als meinem Galeristen, so möchte ich ihn doch weniger anlügen. Er war und ist immer so gut zu mir, und ich habe ihm schon so viel eigentlich Unverzeihliches angetan. Ich will ihn schonen, es reicht, dass ich ständig sein Ferienhaus benutzen darf – und andere Leute in Hamburg kenne ich nicht mehr, purer Sex schafft keine tiefen Bindungen.
Ich gehe zurück zum Bahnhof. Das eine oder andere Mal werde ich von einem vorbeihuschenden schönen Schatten abgelenkt, manchem sehe ich sogar sehnsüchtig nach – ich bin sehr wohl religiös, nur warte ich nicht auf die Erlösung erst im Jenseits, sondern auf eine im Hier und Jetzt durch haarige Haut und gut durchblutete Muskeln – doch werde ich nicht erkannt. Mit der Intuition des Blinden vor einer Gefahrenquelle weichen sie mir alle rechtzeitig aus. Dank der anderen erreiche ich diesmal sicher mein Ziel.
Der Hauptbahnhof erschlägt mich beinahe mit seinem Geräuschpegel und Menschengewimmel, sodass ich mich erst überwinden muss, bevor ich wirklich in seine Haupthalle trete, um nachzusehen, wann der nächste Zug in Richtung Nordseeküste abgeht. Draußen ist es auch nicht gerade still und idyllisch gewesen, ein ganz normaler Tag in der Großstadt eben mit seiner üblichen Mischung aus Menschen und Maschinen, die sich von A nach B bewegen. Vielleicht ist draußen sogar etwas weniger los als sonst, weil auch in Hamburg gerade Herbstferien und deshalb einige Einwohner verreist sind. Umso mehr ist dafür innerhalb dieses Bahnhofsbaus los, der aussieht wie ein umgedrehter Schiffsrumpf, mit dem Kiel in den Wolken und nicht im Wasser. Wie passend für eine Hafenstadt. Hier drinnen fließt der gesamte Ferienverkehr unversehens zusammen, um wie von einem Transistor gebündelt, verstärkt und als dichter Strom über das ganze Land verteilt zu werden. Und ich bin leider eins der geladenen Teilchen, das transportiert zu werden wünscht. Nur bin ich ein Elektron oder ein Proton? Von meiner Laune her, die sich schlagartig wieder um mehrere Schattierungen verdunkelt, bin ich ganz negativ geladenes Elektron – und empfinde das selbst als falsch. Aber ich kann jetzt auch nicht mehr umkehren, ich muss da durch, selbst wenn ich wirklich, vielleicht ja schon seit Jahren, als ein positives Proton durch die Welt geistere und meinen Mitmenschen elektrische Schläge verpasse.
Die endgültige Ernüchterung folgt, als ich vor der großen Anzeigetafel stehe und mir verkünden lassen muss, dass der nächste Zug über Dagebüll Mole, wieder nur ein popeliger IC und kein pfeilschneller ICE, erst in einer Dreiviertelstunde fährt, die Verspätung von bisher zehn Minuten bereits eingerechnet. Was soll ich so lange tun? Ich weiß ja jetzt schon nichts mehr mit mir anzufangen, wenn mir nicht einmal ernsthaft der Sinn nach Cruisen steht und ich auch nicht in mein Atelier kann, um darin wenigstens Ordnung zu schaffen; manchmal beruhigt schon das meine aufgekratzten Nerven. Manchmal fühle ich mich schon wohl, wenn ich mich einfach nur zwischen meinen Bildern in den verschiedenen Stadien ihres Entstehens bewegen und den immer leicht stechenden Geruch meiner Ölfarben und des Terpentins – der Libidotropfen Harz und Wald in meiner Arbeit – einatmen kann. Manchmal kommt es sogar vor, dass ich einfach nur ein paar Tuben öffne und daran schnüffle, das weckt die Erinnerungen an den Arbeits-, den eigentlichen Schaffensprozess, eben die beste Zeit meines Daseins, und stimmt mich
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