Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
Vom Netzwerk:
Rufe der Käuze wie silberne Fäden eingewirkt waren, vorbei an Vorgärten, in denen zwischen bereits schlafenden Blumen Menschen noch gemütlich saßen und plauderten, und an Weiden, auf denen das Vieh langsam wiederkäuend zur Ruhe kam, und unter dem Zwinkern der Venus, die immer als Erste am Himmel auf ist und jene begütigend begleitet, die die Nacht nicht mehr fürchten müssen.
    Zu Hause angekommen, ignorierte ich das polizeiverhörhafte »Was kommst du denn jetzt erst so spät?« meines Vaters, wünschte allen nur eine gute Nacht und verschwand auf mein Zimmer, das ich am liebsten erst wieder in einer Woche zur nächsten Trainingsstunde verlassen hätte. Der Alte konnte mir jetzt nichts mehr, es gab da einen neuen Mann in meinem Leben, der mir viel besser zeigen konnte, was ich wissen wollte, weil er nicht von meinem Blut war, sondern von meiner Art. Und wichtiger noch: Karsten wollte mich in diese neuen Dinge einweihen, während mein Vater das Wissensgefälle zwischen uns als Basis seiner Macht begriff und niemals teilte, sondern nur herrschte. Aber das war jetzt vorbei, ein für alle Mal. Ohne es zu wissen, hatte ich meinen Vater entmachtet und gestürzt. Ich brauchte ihn nicht mehr; anstatt eines Vaters hatte ich jetzt einen Liebhaber.
    Wen ich aber brauchte, und zwar so sehr, dass es wehtat, wenn immer ich nicht mit ihm zusammen sein konnte, war Karsten. Karsten, den Ehemann und zweifachen Vater, von dem keiner wusste, wer und was er wirklich war. Karsten, mit dem ich es einen ganzen Sommer lang Woche für Woche unter der Dusche trieb, dessen Sperma ich ja fast schon literweise schluckte und der bald auch meins trank, als wäre es köstlicher Nektar. Karsten, der mich im Winter auch in der Halle hätte trainieren sollen. Karsten, der mir eines Tages den Vorschlag unterbreitete, mit ihm am übernächsten Wochenende nach Heide zu fahren, wo der örtliche Tennisverein ein Turnier veranstaltete, um sein fünfzigjähriges Bestehen zu feiern. Natürlich sagte ich sofort ja, denn ich wusste, dass es ihm genauso wenig wie mir um dieses bescheuerte Turnier ging. Auch meine Eltern sagten sofort ja, denn sie kannten Karsten schließlich als zuverlässigen Mann, dem man seinen Sohn getrost anvertrauen durfte. Und so fuhren wir am letzten schönen Septemberwochenende jenes Jahres in Karstens rostrotem VW Passat quer durch Holstein, um einen unvergesslichen Liebesausflug nach Heide zu machen, der uns für immer aneinander hätte schweißen sollen.
    Es war Liebe gewesen, von seiner Seite ebenso wie von meiner. Wenn er mich nicht geliebt hätte, hätte er die Idee niemals vorgebracht, hätte er nicht so viel Energie von seiner Familie abgezogen und in mich investiert, für mich verschwendet. Denn Liebe ist nichts anderes als wunderbare Energieverschwendung, als ein sich lustvoll am anderen Aufreiben. Doch Liebe bedeutet nichts, wenn Angst die wahre leitende Kraft im anderen ist.
    Mit einem weiteren Ruck fährt der IC an, und die vertrockneten Legehennen um mich herum gackern ihre Erleichterung darüber, dass der Lokführer vorhin wohl doch nur zu scharf gebremst hätte, nur so hinaus. Doch während sie froh sein können, Heide wieder zu verlassen, hänge ich noch ein Weilchen länger dort fest.
    Karsten kam aus Heide, soviel wusste man über ihn. Bevor er – da war er bereits verheiratet und seine Frau mit dem ersten Kind schwanger – wegen eines Jobs in unsere Gegend gezogen kam, aus Rendsburg, wo er seine Ausbildung zum Versicherungskaufmann absolviert hatte, hatte er sein ganzes Leben in Heide verbracht. Hier war er zur Schule gegangen, im hiesigen Verein hatte er mit dem Tennisspielen begonnen. Hierhin kam er regelmäßig zurück, denn seine Eltern lebten noch immer hier, noch immer in demselben kleinen, weiß verputzten Einfamilienhaus in einer ruhigen und beschaulichen Siedlung am Rande der Stadt. Alles dort atmete noch die Atmosphäre der Fünfzigerjahre, die Aufbruchs- und Verdrängungsstimmung der Nachkriegszeit, als wäre lediglich eine Naturkatastrophe geschehen, wie sie tragischerweise immer wieder mal vorkommen kann. Solche Siedlungen gibt es über das ganze Land verstreut, sie sind das architektonische Schulterzucken des reuelosen Kleinbürgers, der wieder zu Wohlstand gekommen ist anstatt in Haft für seine Taten. Hinter hohen Hecken und dichten Baumreihen, die den direkten Einblick verwehren und die vergleichende Neugierde auf die Besitztümer des Nachbarn schüren, präsentiert man die perfekte Fassade

Weitere Kostenlose Bücher