Die unsicherste aller Tageszeiten
routiniert, als hätte er nicht nur alle Gegebenheiten vorher sorgfältig ausgekundschaftet und so arrangiert, dass auch ja keine Entdeckung, kein Auffliegen möglich war, sondern als hätte er es auch schon ausprobiert und wusste von daher, dass es funktionierte. Und es hätte einen Skandal gegeben, wären wir – er – aufgeflogen. Sie hätten ihn alle hingehängt, ihn als Betrüger und vermutlich auch Kinderschänder gebrandmarkt und mit Ausgrenzung und sozialer Isolation gelyncht. Sie hätten ihm genau das angetan, was meine Eltern auch für mich befürchteten, als ich endlich mein Coming-out vor ihnen hatte. Und meine Eltern hätten vermutlich mitgemacht. Und mich erst recht zum Psychiater geschleift, damit der mir die Schändungswunden, die mir dieser Verbrecher zugefügt hätte, mit Jung und Freud und all den anderen scharfen Desinfektionsmitteln für die Seele auswasche, damit sie zu hässlichen und ein Leben lang schmerzenden Narben verheilten. Hätte es einen Skandal gegeben, auch ich wäre daran zugrunde gegangen, dem zürnenden Christengott der sittsam braven deutschen Kleinbürgerlichkeit als Schlachtopfer dargebracht, um meine Reinheit und den guten Ruf meiner Familie wiederherzustellen.
Karsten war kein Kinderschänder, allein schon deshalb, weil ich kein Kind mehr war. Ich war mit meinen fast fünfzehn Jahren ein junger Mensch, der mitten im Reifeprozess der Pubertät steckte und darin schon ziemlich weit gediehen war. Karsten tat nichts gegen meinen Willen. Im Gegenteil, er hat mir meine geheimsten Wünsche erfüllt und mir die Furcht vor ihnen genommen, indem er mir zeigte, dass sie eben doch nicht so fremd und befremdlich einzigartig waren, wie es allgemein den Anschein hatte, sondern dass sie auch von anderen geteilt, ja erwidert wurden. Aus der Larve war da längst ein Schmetterling geworden, Karsten half mir nur, den Kokon endlich aufzubrechen und abzustreifen – der Unterschied zwischen ihm und mir war der, dass ich wirklich ein schwuler Schmetterling sein wollte, der erleichtert und frei durch den Garten der Welt flatterte, während er zu einer Art schwulem Einsiedlerkrebs degeneriert war, der seinen Kokon in ein Schneckenhaus verwandelt hatte, dass er nun wie einen Schutzpanzer mit sich herumtrug und nicht abzulegen imstande war; damals wusste ich noch nichts darüber, was für ein verkorkstes Leben diese Schrankschwulen führen.
Auf seinem Radar, auf dem Gefahren rot und mögliche Freuden blau aufleuchteten, erschien ich sofort. Und sofort fing er meine begehrlichen Blicke auf, erwiderte sie bald und gab mir Funksignale, die mich dankbar in die richtige Richtung lotsten. Während alle anderen Teilnehmer der Trainingsgruppe sich bereits umziehen durften, behielt er mich da, den Platz abzuziehen und die Linien wieder vom roten Sand freizufegen. Er unterhielt sich mit mir, machte mir Komplimente, erst über mein Spiel, dann über mich und meinen Körper. Zuerst errötete ich darüber nur, dann fasste ich Mut und erwiderte sie, besonders solche, seinen Körper betreffend, bis ich ihm irgendwann mit atemloser Stimme zuflüsterte und trotzdem das Gefühl hatte, als würde sie laut über sämtliche verlassenen Plätze hallen: »Du bist so schön.« Da kam er in der Dämmerung ganz nah an mich heran, die beiden weißen Flecken unserer Sportkleidung schimmerten verschwommen im Zwielicht und schienen schon hier und jetzt zusammenfließen zu wollen, doch hielt er vor dem letzten Schritt inne. Statt mich gleich in der Öffentlichkeit einer abendlich-leeren Sportanlage zu küssen, flüsterte er mir ins Ohr: »Lass uns duschen gehen.«
Karsten war oft der Letzte auf dem Platz, erledigte manchmal noch die eine oder andere Hauswarttätigkeit, es war ein gewohnter Anblick, ihn als Letzten hier anzutreffen. Alle anderen waren längst gegangen, das Tennisheim gehörte uns. Wir teilten uns ohnehin eine Umkleidekabine, die wir trotzdem von innen abschlossen, und zu der eine eigene Dusche gehörte. Das Licht war eigentlich zu grell, aber unser Blick war von Zartgefühl umflort und aufgeladen mit einem so starken erotischen Knistern, wie ich es danach niemals wieder erlebt habe. Alles in mir war Begehren und Wunsch, ich wollte diesen Körper, diesen Mann da vor mir berühren, und noch stärker wollte ich, dass er mich berührte und mir endlich die Dinge zeigte, nach denen ich mich zuletzt schon beinahe schmerzhaft stark gesehnt, von denen ich so intensiv geträumt hatte, dass ich am Morgen mit diffusem Blick,
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