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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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flockigen Kruste festgetrocknet. Ich bemühe mich auch, mir mit kaltem Wasser diesen Ausdruck überkommenen, aber immer noch leicht lebendigen Schmerzes aus dem Gesicht zu spülen. Der jedoch sitzt vornehmlich hinter den Lidern, und die schließen sich reflexartig, sobald sich ihnen etwas nähert, und schützen so alles, was dahinter eingeschlossen ist, alles frühere wie gegenwärtige Erleben: Trauer und Schmerz, Hass und Wut und manchmal auch Liebe und Freude, diese kurzen, mehr der Einbildung als alles andere geschuldete Funken.
    Ich gehe zurück in mein Altenabteil.
    Ich wurde richtig körperlich krank als Folge meines Liebeskummers. Ich bekam Schüttelfrost und Fieber, mein Magen war zu einem Knoten verdorrt, der kaum mehr als flüssige Nahrung aufzunehmen imstande war. Aus jedem noch so läppischen Anlass heulte ich, selbst bei den Fernsehnachrichten, wenn gezeigt wurde, dass jemand bei einer Explosion sein Haus, bei einem Unfall seinen Verwandten oder bei einer Pleite seinen Billiglohnjob verloren hatte. Oder wenn in der Werbung glücklich verliebte Menschen gezeigt wurden. Oder ein schnulziges Lied im Radio lief. Oder mich einfach so eine Erinnerung überkam. Es war die Hölle; die erste Zeit war ich buchstäblich nur am Würgen und behauptete vor meiner Familie, es sei eine verschleppte Sommergrippe, die schon von alleine, ohne ärztliche Hilfe, wieder abklingen würde, nach einer gewissen Zeit, mit dem nötigen Maß an Ruhe.
    Ich verbarrikadierte mich in meinem Zimmer, ging anfangs nicht einmal in die Schule. Warum auch, da hätte ich ja auch nur allen was vorgeheult. Meine Mutter schrieb mir die Entschuldigung, Grippe stand tatsächlich darauf. Meine Mutter, der Hausschatten, der in allen dunklen Winkeln des Hauses anwesend war und alles sah, was vor sich ging. Und wenn sie bis dato vielleicht immer noch in einer völlig verdrehten Windung ihres Gehirns gehofft haben mochte, für mich könnte es so etwas wie Heilung geben, irgendwann eine neue Phase beginnen, mir musste nur das richtige Mädel begegnen, dann nahm sie jetzt endgültig von diesem beleidigenden Blödsinn Abschied. Sie sagte zwar nichts, bis vor Kurzem hat sie mich niemals auf die Ereignisse in Heide angesprochen, aber ihr Blick auf meinen desaströsen Zustand verriet, dass sie bereits damals eins und eins zusammengezählt hatte.
    Trotzdem ließ ich sie nicht an mich heran, ich traute ihr nicht über den Weg, ihr nicht und auch sonst niemandem mehr. Sie hatten mich alle enttäuscht. Selbst an dem zehnten Morgen nach der Trennung, die ja nicht einmal eine richtige Trennung sein durfte, als ich erst zur dritten Stunde in die Schule musste und sie sich zu mir an den Frühstückstisch setzte, wies ich sie ab.
    »Möchtest du mir nicht erzählen, was passiert ist? Vielleicht hilft es dir ja?«, fragte sie im Tonfall reinster Lauterkeit.
    »Nein!«, antwortete ich schneidend und ging zum Bus.
    Vielleicht hätte ich meiner kleinen Schwester davon erzählt, wenn mich nicht der Eindruck, es wäre sinnlos, da sie noch zu klein war, um auch nur das Geringste zu verstehen, davon abgehalten hätte. Aber sie fragte mit einer solch zärtlichen Naivität, dass es sogar an mein zum Salzklumpen erstarrtes Herz rührte. Anstatt zu sprechen, sah ich nur zu, zurück in mein Zimmer zu kommen, bevor die Heulerei von vorn losging und kein Auge trocken blieb.
    Wären, was die Familie anging, noch mein Vater und meine beiden Brüder für eine Aussprache geblieben, wenn die nicht durch den Ausdruck in ihren Gesichtern, in dem sich Abscheu und Ekel vor mir ungefähr die Waage hielten, von vornherein klargemacht hätten, dass sie darauf keinen Wert legten. Einmal mehr erwies es sich jetzt als schwere Bürde, mit einer Schwuchtel und noch dazu einer Heulsuse wie mir verwandt sein zu müssen. Ließ ich in ihrer Gegenwart auch nur das leiseste Schniefen hören, wurden sie schon böse und schickten mich weg. Meinem Vater gehorchte ich, nichts fürchtete ich so sehr wie den brennenden Schlag einer von ihm ausgeteilten Backpfeife, das Platzhirschgehabe meiner Brüder jedoch reizte mich bald nur noch und wurde schließlich zu einer willkommenen Gelegenheit, Wut, Hass, Zorn und Enttäuschung mit ihrer Hilfe abzureagieren.
    »Schwächling!«, nannten sie mich und: »Widerlicher Arschficker.«
    »Ich bin kein Arschficker – ich lass mich nur in den Arsch ficken!«
    Sie prügelten mich windelweich, bis meine Mutter und meine Schwester vor Panik und Entsetzen heulten und mein Vater

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