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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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spielen würden, Peer und Birthe gegen ihn und mich. Ich wandte nichts dagegen ein, obwohl längst alles in mir kochte und brodelte.
    So kam es, dass die letzte Berührung, die Karsten und ich jemals austauschten, ein Unfall war, ein schmerzhafter Zusammenprall, weil wir beide, unfähig, als Teamkameraden auf dem Platz miteinander zu kommunizieren, einem Lob hinterherjagten, der feldmittig an der Grundlinie aufschlagen würde, und auf halber Strecke ineinander liefen. Karsten, größer, schwerer, kräftiger als ich, rannte mich glatt um, wodurch ich rutschend fiel und mir auf dem Sand diverse Schürfwunden zuzog. Er selbst geriet ins Taumeln, verlor das Gleichgewicht und schlug schließlich ebenfalls der Länge nach hin. Einen Moment herrschte atemlose Stille auf dem Platz, keiner rührte sich, dann rappelten wir uns, jeder für sich allein, versteht sich, mühsam auf, sammelten unsere Schläger ein und standen einander plötzlich gegenüber. Wir waren klebrig von kleinen Sandkörnern und dünnem Blut, beides Ton in Ton rot, und mussten ausgesehen haben, als würden wir gleich wie zwei Berserker aufeinander losgehen. Und an meine Lippen drängte auch wirklich schon ein gellendes, ein verräterisches Brüllen, mit dem ich allen, nicht nur den beiden Glupschaugenpaaren Peers und Birthes, sondern wirklich der ganzen weiten Welt und allen voran seiner verdammten Frau, dieser dummen, blinden Kuh, hätte mitteilen wollen, welch fürchterlich schöne Dinge zwischen dem Trainer Karsten und mir, seinem Schützling, vorgefallen waren.
    Es erstarb mir auf der Zunge. Karstens jämmerlicher, gebrochener Anblick, seine hängenden Arme und Schultern, seine kummervollen Mundwinkel, die nackte Verzweiflung in seinen Augen, hielt mich davon ab. Wie hatte ein so schöner und starker Mann, der in seinem Leben alles hätte sein und erreichen können, nur so fehlgehen können? Vor mir stand nichts mehr als eine leere Hülle hinter einer stattlichen Maske, in der der Geist einer abgestorbenen Seele spukte. Karsten war längst verloren, für ihn gab es keine Hoffnung mehr. Er lebte bereits im siebten Kreis der Hölle, tiefer konnte selbst ich ihn nicht mehr stürzen. Also ließ ich es bleiben, auch wenn ich das damals in dieser Klarheit natürlich noch nicht dachte. Trotzdem empfand ich so etwas wie Bedauern für ihn – und für mich, dass ich ihm auf den Leim gegangen war und mich von ihm hatte hinunterreißen lassen.
    Ich ging, schnell und stumm, und habe seitdem nie wieder Tennis gespielt.
    Am Ende der Saison legte Karsten sein Traineramt und alle anderen von ihm gehaltenen Vereinsämter nieder und trat sogar ganz aus dem Verein aus. Gründe nannte er keine. Den ganzen Winter über gab es wilde Spekulationen, Gerüchte ließen die Adventszeit in diesem Jahr in besonders andächtigem Licht erglühen. Nach Neujahr legte sich die Aufregung, und zum Start der neuen Saison im Frühjahr haderte man nur noch damit, so schnell keinen Ersatz für seine Kinder- und Jugendtrainingsgruppen gefunden zu haben. Karsten geriet offiziell in Vergessenheit. Bis er gut zweieinhalb Jahre später ein weiteres Mal für Gesprächsstoff sorgte, und zwar für einen so pikanten, dass nicht nur den notorischen Klatschbasen des Dorfes die Bäckchen sich vor als Scham getarnter Freude röteten.
    Es passierte in den Osterferien, die ich bei meiner Tante Regina in Regensburg verbrachte, sterbenslangweilig, aber wenigstens weit, weit weg von zu Hause. Mein Vater rief mich an – das allein war schon ein einzigartiger Vorgang. Seit meinem Coming-out waren wir mehr und mehr dazu übergegangen, das, was wir einander zu sagen hatten, durch Stellvertreter übermitteln zu lassen, meistens durch Mama, seltener durch meine Schwester, am seltensten durch meine Brüder. Und jetzt rief mich mein Vater persönlich an, was mich natürlich sofort befürchten ließ, einer dieser anderen Personen wäre etwas zugestoßen, etwas Schlimmes vielleicht sogar.
    Diese Bedenken nahm er mir jedoch sofort, weil mein Vater, kaum dass ich den Hörer an mein Ohr hielt und ein mauliges »Ja« durch die Leitung zu ihm geschickt hatte, mit der Tür ins Haus fiel.
    »Der Hinrichsen ist weg. Auf und davon. Hat einfach seine Frau und die Kinder sitzen gelassen und sich aus dem Staub gemacht. Und weißt du, wo er hin sein soll? Zu einem ›Freund‹ irgendwo im Ruhrgebiet, Köln oder so. Angeblich hat sie die beiden Typen in flagranti in der Garage erwischt. Er hat dann nur das Nötigste gepackt und ist

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