Die unsicherste aller Tageszeiten
gleich mit dem anderen Kerl mitgefahren. Und sie hat einen Nervenzusammenbruch gekriegt und ist im Krankenhaus gelandet. Und die Kinder sind jetzt bei der Oma.«
Zuerst verstand ich gar nichts, es war mir zwar nicht gelungen, Karsten in persona aus meinen Erinnerungen zu verdrängen, aber zumindest seinen vollen Namen. Als mein Vater nun von diesem »Hinrichsen« sprach, sagte mir das gar nichts, bis er dann den ganzen Rest erzählte. Und wenn das nicht bei der Identifizierung geholfen hätte, dann Aggressivität, Abscheu und Selbstgerechtigkeit in seiner Stimme, hinter der sich nichts anderes verbarg als die vorwurfsvolle Enttäuschung darüber, so sehr hintergangen worden zu sein von diesem Mann, der sich so lange und so erfolgreich als seinesgleichen ausgegeben hatte. So sprach und spricht mein Vater nun einmal über alles, was er schwul findet. So sprach und spricht mein Vater mit mir, wenn er mal wieder verständnislos vor meinem Leben steht. Er will immer Bestätigung und Anerkennung für seine falschen Ansichten von mir, dabei versteht er nichts, rein gar nichts.
Ich hatte mich kaum orientiert, da feuerte er auch schon die nächste Breitseite auf das längst gesunkene Schiff ab:
»Ich hab’s ja immer schon gewusst. Alle haben es gewusst. Der Kerl war doch nie ganz koscher. Jetzt ist wohl auch klar, warum er immer nur die Kinder- und Jugendmannschaften im Tennisverein trainieren wollte, aber niemals die Erwachsenen.«
Ekel erfüllte mich vor dieser falschen Besserwisserei meines Vaters, Ekel sowie Kummer und Bedauern darüber, dass es erst so weit hatte kommen müssen, bevor Karsten seine Freiheit erlangte. Im Nachhinein sollte sogar die Anteilnahme an dieser Familientragödie, deren wahres Ausmaß noch gar nicht bekannt war, von dem die Tratschtanten des Dorfes noch nicht einmal ansatzweise etwas ahnten, denn niemand besuchte die »arme, arme Hinrichsen« an ihrem Krankenbett und hätte so den wahren Grund für ihre Einlieferung erkennen können, bei mir überwiegen und mir dabei helfen, diesen erneuten Verlust meines alten Liebhabers an einen erfolgreicheren Nachfolger schnell zu überwinden.
»Klar, du hast es immer gewusst. Hast immer gewusst, was Karsten für einer war«, höhnte ich. Noch im selben Atemzug stieß ich zu und ihm wie eine Giftschlange, die der Mungo schon besiegt wähnt, meine Giftzähne ins Fleisch: »Und trotzdem hast du mich von ihm trainieren lassen!«
»Was?« Er keuchte erschrocken auf.
Treffer und versenkt, dachte ich.
»Sogar eine kleine Wochenendreise hast du mich mit ihm machen lassen. Nach Heide, zu diesem Turnier, erinnerst du dich? Nur er und ich, wir beide ganz allein, ohne Aufsicht.«
»Aber ich …«
»Du hast mich ihm anvertraut, bedenkenlos. Du hast ihm vertraut. Was dabei alles hätte passieren können. Mit deinem schwulen Sohn.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte das stille Entsetzen nach einem Bombeneinschlag.
Ich ließ das Gift noch ein Weilchen wirken, konnte förmlich sehen, was er gerade dachte, welche Bilder durch seinen bornierten Schädel tobten.
Schließlich aber fuhr ich in verändertem Tonfall fort:
»Ich bin froh, dass es endlich raus ist. Und ob sie es nun von sich aus entdeckt hat oder er es ihr gesagt hat, Hauptsache, das Versteckspiel und das ewige Lügen hat jetzt ein Ende. Vielleicht kann er jetzt endlich glücklich werden, wenn auch weit, weit weg. Und sie auch.« Ich musste einmal tief durchatmen, meine Gefühle drohten, mich zu überwältigen. Dann erklärte ich und durfte feststellen, dass ich es auch tatsächlich so meinte: »Ich wünsche jedenfalls beiden alles Gute.«
Mein Vater sagte noch immer nichts, ich hörte ihn nur atmen, voluminös, gewichtig, um Beherrschung ringend. Mit einem solchen Verlauf des Gesprächs hatte er definitiv nicht gerechnet, damit, dass sein Sohn ihm ausgerechnet bei diesem Thema über sein könnte, dass er, zumindest andeutungsweise, Dinge erfahren würde, an die er offensichtlich niemals auch nur im Traum gedacht hätte. Nur: Warum nicht, wenn er doch wusste, dass sein Sohn schwul war, und auch dessen Tennistrainer immer für eine verkappte Schwuchtel gehalten hatte? Warum tat er jetzt so überrascht?
»War’s das oder hast du mir noch was zu sagen?«, fragte ich mit einer gurgeldurchtrennenden Stimme, die unmissverständlich klar machte, dass ich mir meines Triumphs über ihn sehr wohl bewusst war – und dass der unser Verhältnis zueinander in Zukunft mitbestimmen würde. »Hier gibt es gleich
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