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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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sich selbst.
    Karsten lief weg. Unter die Dusche. Er dusche sehr lange. Und er duschte allein.
    Als ich danach unter der Dusche stand, ebenfalls allein und ohne den Wunsch nach Begleitung, wusch mir das Wasser nicht nur die Spuren des Erwachens ab, diesen ganzen Liebesdreck, sondern auch alle Erkenntnis, jede Stärke und Stütze, die ich aus meiner einsichtigen Wut in die erbärmlichen Verhältnisse meines Liebhabers bezogen hatte. Es half mir gar nichts, mich an die Gewissheit zu klammern, nur leider und eben aus Versehen, weil ich noch so jung war und es nicht besser wusste, weil ich es gar nicht besser hatte wissen können, an einen solchen Sozialisierungskrüppel geraten zu sein, der sich hinter seiner perfekten bürgerlichen Fassade versteckt hielt. Doch wie mir da so der Wasserstrahl über die Haut strich, warm wie ein Paar großer kräftiger Hände, und bildschwere Erinnerungen an diesen wunderbaren Sommer zu einer weichen, nachgiebigen Masse massierte, da war ich es plötzlich, der sich versehrt fühlte, versehrt und für das Leben gezeichnet. Als hätte Karsten seine durch Erziehung und Konvention erlittene Versehrtheit an mich weitergereicht wie einen hochinfektiösen Krankheitserreger, der sich sogleich über mein Selbstbewusstsein hermachte und es binnen weniger Augenblicke auffraß, während er selbst von aller Last befreit weitermachen konnte wie bisher. Ich duschte bald eine ganze Stunde, auf dem Boden der engen Wanne kauernd, in einem Weinkrampf gefangen, der mir die Säure aus dem leeren Magen ebenso auspresste wie alles Glücksgefühl aus meiner Seele.
    Karsten schien jetzt wirklich obenauf zu sein. Als ich endlich nach unten kam, angezogen und mit zur Abreise gepackten Sachen, war auch er nicht untätig gewesen, sondern hatte das schmutzige Bettzeug abgezogen, einschließlich des Lakens, das an manchen Stellen ausgesehen haben mag wie ein Werk von Jackson Pollock, ganz aus Körperflüssigkeiten bestehend, das Bett sorgfältig – luftdicht, könnte man sagen – mit der Tagesdecke abgedeckt und danach Frühstück gemacht. Er hatte den Tisch mit Mamas gutem Porzellan in klassisch friesischem Weiß-Blau eingedeckt, Teller, Tassen, Kerzenhalter. In einem geflochtenen Brotkorb wartete goldbraun getoastetes Toastbrot, um mit Margarine und Marmelade oder Honig bestrichen zu werden – Herzhaftes gab es nicht, die Eltern hatten alle leicht verderblichen Waren vor dem Urlaub aufgebraucht – und in einer Kanne, alte Fischkutter zeigend, frischer Filterkaffee. Es hätte perfekt sein können, wenn er nur Streichhölzer für die blaue Kerze gefunden hätte, so aber blieb mir ihre falsche Romantik erspart.
    Wir aßen schweigend, weil ich den einzigen Versuch Karstens, ein Gespräch zu beginnen, erschlug wie eine lästige Mücke auf der Haut.
    »Möchtest du noch einmal zum Turnier, ein paar Begegnungen sehen?«, fragte er.
    »Nein. Fahr mich nach Hause.«
    Und das war es. Natürlich hakte er nicht nach oder tröstete mich oder umwarb und liebkoste mich aufs Neue, obwohl er deutlich hören konnte, dass meine Stimme tränenerstickt war. Er ignorierte diesen Umstand einfach, stopfte in maschinellem Takt Toastbrot in sich rein und meinte nur zwischen zwei Bissen und einem Schluck Kaffee: »Wie du willst.«
    Hätte ich noch Kraft gehabt, ich wäre ihm an die Gurgel gesprungen. Stattdessen versank ich auf meinem Stuhl in einem Gefühl absoluter dumpfer Kraftlosigkeit, als hätte mich in der Nacht ein Vampir heimgesucht und mir alles Blut aus den Adern gesaugt.
    »Wir müssen aber warten, bis der Trockner mit der Bettwäsche fertig ist. Du kannst mir ja so lange mit dem Abwasch helfen.«
    Ich half ihm nicht. Still und starr saß ich in der Küche, während er um mich herumwuselte und ach so geschäftig tat. Ich trauerte, war ganz gelähmt vor Trauer. Meiner ersten großen Liebe, für die ich alles stehen und liegen gelassen, für die ich Verrat und Mord ebenso begangen hätte wie jede mögliche Heldentat, war in dieser Nacht verraten und ermordet worden, mein Liebhaber selbst hatte ihr ganz gemein und niederträchtig einen Dolch in den Rücken gestoßen und von hinten das Herz durchbohrt. Meine Liebe war tot, und ich wollte am liebsten gleich mit sterben. Hier, an diesem Küchentisch in diesem fremden Haus in dieser mir völlig unbekannten Stadt. Mir war es gleich, das Leben machte ja keinen Sinn mehr, es bestand nur noch aus Schmerz und Qual. Und Enttäuschung über mich selbst, denn hatte ich nicht ebenso dumm wie

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