Die unsicherste aller Tageszeiten
meine Mutter und Großmutter gehandelt und mich an einen Kerl gebunden, der es gar nicht wert war, dass man sich überhaupt mit ihm abgab? Hatte ich nicht genau das Verhalten wiederholt, das nachzumachen ich mir strikt verboten hatte? In Zukunft würde ich besser aufpassen, vorsichtiger sein müssen. Aber die Zukunft war ja ebenfalls gerade gestorben, an ihrer statt breitete sich nichts als Schwärze aus, in der allein die schönen Erinnerungen an die eben beendete Vergangenheit existieren konnten, schillernde, verführerische Geisterwesen, singende Sirenen, die mich zu sich hinab in den Abgrund locken wollten.
Am späten Vormittag saßen wir wieder im Auto und traten die Heimfahrt an. Doch anstatt den geradesten Weg zu nehmen, um die unangenehme Situation, wir beide auf so engem Raum zusammengepfercht, wo zumindest einer von uns beiden nicht so tun wollte, als wäre rein gar nichts geschehen, auf die kürzest mögliche Zeit zu begrenzen, fuhr Karsten erst einmal mitten durch seine alte Heimatstadt. Im Herzen Heides angekommen, fuhr er einmal um ein riesiges Karree, sodass ich einfach aufschauen musste, um herauszufinden, was los war.
»Das ist der berühmte Marktplatz von Heide«, erklärte mir Karsten voller Stolz. »Das ist der größte Marktplatz im ganzen Land.«
Ich nickte knapp und zog den Mund kraus, sarkastisch, nicht anerkennend.
»Möchtest du aussteigen und ihn dir ansehen?«
»Nein.«
Es hätte auch nichts zu sehen gegeben. Nur eine große, quadratische und vor allem leere Fläche, eine Leerstelle mitten im Herzen der Stadt, ungenutzt und verlassen daliegend, weil heute kein Markttag war – so leer, ungenutzt und verlassen wie Karstens Herz, in dem der Markttag auch vorüber war.
»Bring mich einfach nach Hause.«
Die Fahrt zog sich endlos hin, bedrückend wie ein Film, dessen Höhepunkt zu früh gekommen war und der sich jetzt sinnlos und zäh dem Abspann entgegenschleppte. Als Karsten mich endlich vor dem elterlichen Gartenzaun absetzte, verweigerte ich ihm den Handschlag, sondern sah zu, aus diesem Auto rauszukommen, in dem ich auf den letzten Kilometern gar zu ersticken drohte. Die Aussicht, jetzt meiner missgünstigen, verständnislosen Familie gegenübertreten zu müssen, und gleichzeitig zu wissen, dass Karsten heim zu Frau und Kindern fahren würde, einfach so, weil ja nichts geschehen sein durfte, weil dieses falsche Leben trotz allem für ihn Priorität besaß, weil er mich nur benutzt hatte, um zwischendurch mal ein wenig Spaß zu haben, hatte mir die Kehle zugeschnürt.
Karsten fuhr ungerührt davon, während ich minutenlang wie ein Trümmerhaufen auf dem Bürgersteig zurückblieb. Dann raffte ich mich auf und ging ins Haus – und lief natürlich prompt meinem Vater in die Arme. Er wollte gerade nach draußen gehen, um seine Kaninchen zu misten und zu füttern, für gewöhnlich seine besten, weichsten Momente.
»Na, du bist aber früh wieder da. Hast wohl nicht gewonnen, was?«, fragte er beiläufig, klopfte mir kurz auf die Schulter und fügte, kurz bevor er hinter sich die Haustür schloss, hinzu: «Dafür klappt es dann bestimmt beim nächsten Mal.«
Ich rannte nach oben auf mein Zimmer und heulte mir die Augen aus, gar nicht mehr wissend, wo es heftiger wehtat, in der Brust oder im Arsch.
Draußen vor den Zugfenstern ist das Wetter immer trüber geworden, dicker Nebel drückt auf das platte Land, das sich ganz der herbstlichen Trübsal hinzugeben scheint.
Ich stehe auf, entschuldige mich bei meinen Abteilgefährten und wanke zur Toilette, als wären die Erinnerungen schwere Brecher gewesen, die mir eine heftige Schlagseite verpasst hätten, als wäre ich ein alter, leckgeschlagener Kahn, der sich mit Kentern und Untergang ein letztes Wettrennen bis zum Trockendock der nächsten Werft liefert. Die Toilette ist natürlich besetzt, und das passt mir gar nicht, zumal der Mensch darin mal wieder ewig braucht, um sein Geschäft zu erledigen. Es ist ein älterer Herr, der schließlich zum Vorschein kommt, hinter sich die Tür schließt, als befände sich noch jemand in dem schmalen Sanitärraum, und blicklos an mir vorbei zurück zu seinem Platz geht. Ich zeige seinem Rücken meinen Mittelfinger und betrete die Toilette. Scheißegestank hängt schwer in der Luft. Ich fluche wie ein Rohrspatz, während ich das Fenster öffne.
Wütend säubere ich mich von der Schmach in meiner Unterhose, die schon beinahe von selbst wieder verschwunden ist, teils verdunstet, teils zu einer
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