Die unsicherste aller Tageszeiten
So aber war ich voller Tatendrang, trug ich einen Kopf voller wüster Bilder auf den Schultern heim, durch die ich kaum mehr die wirkliche Welt wahrnehmen konnte und die nur noch darauf warteten, endlich auf Papier geboren zu werden. Karstens späte Befreiung vom bürgerlichen Ehejoch schien auch mich endlich befreit, meine Wut- und Gewaltfantasien in kreative Energien umgewandelt und diese in die richtigen Kanäle gelenkt zu haben. Ich kam von Tante Regina mit dem starken Willen zurück, Maler und nichts als Maler zu werden, doch ich traf zu Hause auf meinen Vater, der jetzt, nachdem er zumindest eine Ahnung von den Umtrieben seines kleinen Jungen erhalten hatte, damit noch weniger umgehen konnte als zuvor und dessen Ignoranz und Ablehnung dadurch nur umso schlimmer geworden waren. Mein Schwulsein war von einer bloßen, hirngespinstigen Theorie plötzlich aufgestiegen zu einer unumstößlichen Tatsache, und das weitete den Graben zwischen uns aus zu einem unüberwindlichen Abgrund. Ich dachte, ich hätte ihn besiegt und wir würden nun die Bedingungen für seine Kapitulation aushandeln, um in Zukunft wenigstens leidlich miteinander auszukommen, stattdessen schien ich ihn nur noch weiter in die Flucht geschlagen zu haben. Mein Vater war für mich so gut wie gar nicht mehr vorhanden, er entzog sich mir fast vollständig, und das tat mehr weh, als ich es jemals für möglich gehalten hätte.
Anstatt sich für alles, was er mir in den vergangenen Jahren angetan hatte, zu entschuldigen, ein guter Verlierer zu sein und sich um Wiedergutmachung zu bemühen, ging er mir komplett aus dem Weg. Sobald ich den Raum betrat, verstummte er und senkte den Blick, um mich nur ja nicht ansehen zu müssen. Wenn wir gezwungen waren, etwas gemeinsam zu machen, zum Beispiel als wir zur feierlichen Austeilung der Abiturzeugnisse in der Aula des Gymnasiums fahren mussten, da erzeugten wir ein derart eiszeitliches Klima um uns herum, dass sich meine Mutter eine fette Erkältung darin holte. Und meinen Entschluss, Lehrer werden zu wollen, kommentierte er ebenso wenig wie meine Verlautbarung, das Studium geschmissen zu haben, weil ich nun doch lieber in Berlin ein echter Künstler werden wolle. Komme ich heute mal für ein paar Tage in mein Elternhaus, zieht er sich in seine beheizbare Werkstatt zurück, wo er kaum noch arbeitet, sondern sich eine kleine Bibliothek eingerichtet hat, und sitzt und liest. In diesem Zwitterding von einem Lebensraum verschanzt er sich dann und brütet, sich einen Wälzer zu den Themenkreisen Wirtschaft, Politik, Geschichte und Militärgeschichte sowie Sport zu Gemüte führend, vor sich hin. Sein Vater, mein seliger Opa Heinrich, hatte ihm damals das Studieren verboten und ihm befohlen, einen handwerklichen Beruf zu erlernen, er fügte sich und erntet bis heute die bitteren Früchte seines Gehorsams.
Unser Verhältnis war dabei nicht einmal immer schlecht, es fing sogar ganz gut an. Denn meine älteren Brüder bekamen eigentlich die gesamte Strenge der vom Großvater übernommenen harten Hand unseres Vaters ab. Sie mussten sich fügen, egal, worum es ging, und taten sie es nicht, flogen zuerst heftige Worte und dann die Ohrfeigen. Wahrscheinlich war es das, was die beiden so sehr zusammengeschweißt hat, besonders nachdem ich dann geboren worden war und sie sehen mussten, dass Papa mit mir, der Übererfüllung des Statthaltererzeugungsplans, viel liebevoller und nachsichtiger umging als jemals mit ihnen – es sei denn, ich benahm mich derart schlimm daneben, dass eine Bestrafung unumgänglich war, dann traf auch mich die harte Hand meines Vaters mit voller Wucht. In dem Maße, wie er mich verwöhnte, verachteten sie mich infolgedessen. Sie piesackten und quälten mich, wo sie nur konnten, nahmen mir ständig mein Spielzeug weg und brachten mich auf Teufel komm raus zum Weinen. Doch musste ich nur vor Papa weinen, und ich wusste, er würde mich rächen. Und ich lernte, von dieser Rache skrupellosen Gebrauch zu machen, ich schreckte auch nicht vor falscher Beschuldigung zurück. Meine Brüder dagegen lernten, Vaters Strenge mit Trotz zu ertragen, was ihnen den Mut gab, sich nur umso hinterhältiger auf mich zu stürzen. Einmal kam ich aus dem Kindergarten heim, da hatten sie hinten im Garten all meine Kuscheltiere verbrannt; sie bekamen Hausarrest und Prügel, ich neue, bessere, schöne Kuscheltiere als zuvor. Anstatt für Verständnis sorgten diese Maßnahmen natürlich nur dafür, dass verletztes Ehrgefühl und
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