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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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das in ihm zu liegen schien, schwang bereits heftig mit. Mein Bruder gab natürlich klein bei und ging schließlich als traurigverlauster Landstreicher, was mich mit hämischer Freude erfüllte – und mich anstachelte. Wenn das nicht eine gute Gelegenheit wäre, es ihm noch mal so richtig zu beweisen, wen Papa lieber mochte! Mir würde er das bestimmt erlauben.
    Nichtsdestotrotz brauchte ich zwei Jahre, bis ich mich endlich traute. Und Papa erlaubte es mir. Mit einem qualvollen, angewiderten Ausdruck im Gesicht und einem Spruch zum Abschied, als wir Kinder mit Mama zur Gaststätte losgingen, der sich anfühlte, als hätte er mich hinterrücks die Treppe hinabgestoßen:
    »Pass bloß auf, dass du nicht noch weibischer wirst.«
    Ich ließ mir nicht anmerken, wie sehr mich das verletzte, versteckte mich aber doch getroffen hinter Mama, die an meiner statt antwortete:
    »Thorsten, es ist doch nur Fasching.«
    Papa knallte nur hinter uns die Haustür zu.
    Im Jahr darauf wollte ich als Roboter gehen und sah am Ende, weil sich im ganzen Haus kaum etwas fand, was meiner Vorstellung von einem Roboter entsprochen hätte, aus wie eine Mischung aus androgynem Kunstwesen und Spermatozoon. Die Verkleidung war mir so außerordentlich gut misslungen, dass ich sie zumindest sehr komisch und vorzeigbar fand. Papa wandte sich mit Grausen ab. Ein weiteres Jahr darauf fühlte ich mich dann zu alt für den Kinderfasching.
    Da malte ich dann auch längst schon lieber und gab mich ausschweifenden Tagträumereien hin, Beschäftigungen, die sich mehr und mehr in dem engen Raum meines Zimmers abspielten. Alle anderen Kinder, besonders die Jungen, spielten draußen, Fangen, Verstecken, Jagen, Räuber & Gendarm, oder bolzten oder prügelten sich, manche zeigten auch eine handwerkliche Begabung – auf jeden Fall legten sie äußerlich das ab, was man als feminin an ihnen hätte interpretieren können. Nur ich malte und benutzte dafür ein ums andere Mal die Puppen und Barbies meiner Schwester, die ich sorgfältig ankleidete und zu kleinen Gesellschaften drapierte, um sie dann abzumalen. Und manchmal überkam es sogar mich, dann nahm ich dieses Spielzeug – das war es in den Augen meiner Mitmenschen, für mich sahen die Dinge ganz anders, viel ernster aus, handelte es sich hierbei doch bereits um Übung und Vorbereitung auf mein späteres Leben – mit nach draußen in den Garten, um kleine Puppengesellschaften in der freien Natur zu porträtieren. Das blieb natürlich auch den Nachbarn nicht verborgen, die, waren sie mir und meinen Eltern freundlich gesinnt, meinten, was für ein kreatives kleines Kerlchen ich doch wohl sei. Es musste aber, hinter meinem Rücken, doch in Hörweite der Ohren meines Vaters, auch andere, bösere Stimmen gegeben haben, die Gerüchte streuten und von einer gewissen ›Verdächtigkeit‹ bei mir sprachen. Und einmal ausgesprochen, waren diese Worte nicht mehr aus der Welt zu schaffen.
    Mir machte das nichts aus, ich bekam das erst nachträglich mit. Meine Mutter ließ sich ebenfalls nichts anmerken, weder widersprach sie diesen Stimmen noch würdigte sie sie überhaupt irgendeines Kommentars. Meinem Vater hingegen mussten sie schwer zusetzen, machten sie ihn doch, in seinen Augen ganz bestimmt, zur Zielscheibe für Hohn und Spott, Besserwisserei und Heuchelei. Und was hätte er dagegen tun können? Nichts. Die Schlangen um ihn herum, mit denen er zusammen bei der freiwilligen Feuerwehr war und zum Preisskat ging und sich im Gemeinderat um die Belange der Gemeinschaft kümmerte, zischten ihre Botschaften grundsätzlich nur mit gespaltener Zunge. Er stand ihnen allen hilflos gegenüber und fühlte sich in seiner Achtbarkeit angegriffen. Und dabei war ›schwul‹ immer noch kein Thema, weder offiziell noch inoffiziell, wie seine und Mamas Reaktion später auf mein Coming-out bewies. Bis jetzt war das für ihn alles einfach nur üble Nachrede. Es konnte ja nicht sein, was nicht sein durfte – auch ihm waren Annahmen und Unterstellungen wichtiger als die Wahrheit, die Vermutung billiger zu haben als das klärende Gespräch. So war und blieb er vollkommen wehrlos.
    Je wehrloser er sich jedoch fühlte, desto wilder und aggressiver sprang er mit uns um. Je verratener er sich von mir vorkam, desto tiefer sank ich in seinem Ansehen. Früher hatte seinem Verhalten wenigstens noch eine Form von Autorität innegewohnt, die uns Kinder oft genug guten Gewissens parieren ließ, jetzt handelte er für uns nur noch autoritär.

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