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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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Essen, und es wäre unhöflich, zu spät zu Tisch zu kommen.«
    »Nein. Nein, das war’s«, antwortete mein Vater.
    »Okay. Dann tschüss.«
    »Tschüss.«
    Ich wollte schon auflegen, da hörte ich ihn doch noch eine Frage stellen:
    »Wann kommst du noch mal nach Hause?»
    «Sonntag. In fünf Tagen.«
    »Gut. Tschüss.«
    Er legte auf.
    Nachdem ich aufgelegt hatte, ließ ich mich an der Wand des Hausflurs gleich neben dem Telefontischchen zu Boden gleiten, meine Beine fühlten sich auf einmal ganz weich an, so als enthielten sie keinen einzigen Knochen mehr. Ich zitterte am ganzen Leib. Aber ich weinte nicht, ich schluckte nur trockenen Speichel gegen den Schmerz in meiner Brust, gegen den Phantomliebeskummer. So saß ich einige Minuten, bis meine Tante Regina kam, nach mir zu sehen. Im Grunde genommen war sie eine mir vollkommen fremde Person, weil ich sie immer nur zu den seltensten Gelegenheiten gesehen hatte; sie war schon vor meiner Geburt mit ihrem Mann nach Bayern gezogen. Aber sie war eben doch auch die ältere Schwester meiner Mutter und im Gegensatz zu ihr eine selbstbewusste und resolute Frau, die auch offen ihre Güte und Zuneigung ausdrückte. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählte ich ihr die ganze Geschichte, und bis heute ist sie die Einzige, die weiß, wie es wirklich gewesen ist damals.
    Ich fühlte sehr viel Aggressivität in mir nach der Zurückweisung und Verletzung durch Karsten. Ich würde sogar sagen, sie hat erst so richtig zum Ausbruch meiner Gewaltfantasien geführt, die ich dann im Laufe der Zeit auf Leinwand zu bannen lernte. Zwar hatte es auch vorher schon solche gegeben, meine eigene Familie, allen voran die Beziehung zu meinem Vater und meinen Brüdern, hatte genug Stoff geliefert. Aber erst jetzt, nachdem ich einen Mann erkannt hatte und von ihm erkannt worden war, nahmen die Bilder in mir klarere Formen an, überwanden sie das Schemenhafte. Der Verlustschmerz wirkte als Katalysator, und er war es auch, der mich schließlich ernsthaft zu Pinsel und Papier greifen ließ, um seiner endlich Herr zu werden. So entstanden die ersten Radierungen, die meinen Ruhm begründen sollten.
    Auf keiner einzigen davon allerdings sieht man Karsten. Weder als Täter noch als Opfer, beides oder, was ganz selten nur vorkommt, als unbeteiligter Beobachter. Ebenso wenig tritt er als Figur in den Gemälden der ›torture porn origins‹-Serie in Erscheinung. Der Grund dafür ist so seltsam wie einfach: Ich kann ihn mir nicht vorstellen. Ich kann von Karsten träumen, fantasieren, mich über ihn aufregen und mich von ihm verfolgen lassen; sobald ich aber versuche, ihn zu malen, und mir dafür sein Bild ins Gedächtnis rufen will, erscheint vor meinem geistigen Auge nur ein leerer Umriss, der sich nicht füllen lässt. Alle Farbe, die ich darin anbringen will, verschwindet auf Nimmerwiedersehen in diesem Nichts. Als unfreiwillige Erinnerung ist mir Karsten, mein Entjungferungsgeist, allgegenwärtig, als Objekt meiner Arbeit vollkommen unzugänglich, ein aus der Flasche entwichener Dschinn, der sich mit nichts wieder einfangen lässt. Ich kann ihn nicht verarbeiten.
    Dennoch gibt es zumindest eins meiner Bilder, auf dem er für mich präsent ist, als Blutschatten und düstere Vorahnung. ›Die Morgengabe‹ heißt es, und es ist auch noch in der Hinsicht besonders, dass es eines der wenigen Bilder der Serie ist, auf dem man ganz klar eine Frau identifizieren kann. Ihr blondes Haar sieht etwas stumpf aus, wie es ihr lang und offen über die Schultern fällt, ihr Gesichtsausdruck teigige Duldsamkeit; ihre Brüste hängen etwas prall und zu schwer, wie Kuheuter, an denen zu viele Kälber gesäugt wurden; Bauch und Hüften bilden einen wabbeligen Schwimmring; der Hintern ist ein großes, weiches, platt gesessenes Kissen; die Beine zu massige Stampfer; ihre Vagina weggesperrt hinter dem Dornengestrüpp ihres allzu üppig wuchernden Schamhaars. Vor ihr steht ein stattlicher Mann mit schwarzen Haaren, der dem Betrachter den breiten Rücken zuwendet und dessen bartstoppeliges Gesicht man nur angedeutet im Profil sieht. Sein ganzer Körper ist muskulös, seine Beine und sein Po sind wild behaart. Seine Haltung strahlt Aggressivität aus, doch die gebeugte Haltung seiner Schultern absorbiert diese und richtet sie gegen ihn selbst. Beide sind mit Blutspritzern besudelt, denn in seiner Linken hält der Mann den Kadaver eines frisch geschlachteten Kaninchens an den Hinterläufen hoch. Das Fell ist ihm abgezogen,

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