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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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der Kopf abgeschlagen, der Bauch aufgeschlitzt und alle Innereien, das Herz eingeschlossen, entfernt, seine Haut trägt noch einen rotfeuchten Glanz. In seiner Rechten hält der Mann das Schlachtermesser, eine scharfe schmutzige Klinge, deren Spitze auf das Herz der Frau gerichtet ist. Aber beide, sie sowohl als auch der Mann, starren nur freudlos auf das tote Tier, sein Ehegeschenk an sie – Karsten ist nicht auf diesem Bild zu sehen und trotzdem ist er für mich darin, sein ganzes verpfuschtes Leben.
    »Was wohl deine Eltern zu diesem Bild gesagt haben?«, meinte Klaus, als er es zum ersten Mal sah; worauf ich ihm nichts antworten konnte, denn meine Eltern haben sich bis heute niemals zu diesem Bild geäußert, so sie es denn überhaupt gesehen haben. Die Meinung meiner Geschwister dazu kenne ich ebenfalls nicht.
    »Willst du wirklich, dass ich es als Teil deiner Serie anbiete?«, fragte mich mein Galerist voller kaufmännischer Zweifel. »Es ist gut, sehr gut sogar. Aber es scheint mir doch zu sehr den bereits bekannten Boden zu verlassen, und das könnte so manchen abschrecken.«
    Doch die internationale Presse jubelte nur: »… und besonders die Kraft und Selbstsicherheit, mit der es die Botschaft des Künstlers aus dem Bereich des rein Homoerotischen in den heterosexuellen Bereich der Gesellschaft transportiert, ist nicht nur verblüffend, sondern macht es auch zu dem hervorstechendsten Werk der gesamten Serie, denn beweist es so doch deren Universalität: Wir alle sind grausam, im Umgang miteinander ebenso wie mit uns selbst«,
London Times
.
    Draußen vor den Fenstern verschwindet das flache, immer leerer werdende Land im Rachen des Nebels, den der Zug wie eine eiserne Hand zerschlägt. Im Abteil dösen oder schlafen die Alten, die Ehefrau mir gegenüber liest
Das Goldene Blatt
. Ich massiere mir gedankenverloren die schmerzenden Kiefer; während des allzu lebhaften Erinnerns muss ich mal wieder mit den Zähnen geknirscht haben. Das passiert mir öfters, tagsüber ebenso wie nachts. Mein Zahnarzt rät mir seit Jahren dazu, zumindest nachts eine dieser Schienen aus Plastik zu tragen, um den Zahnschmelz zu schützen. Was mir jedoch zu blöd ist, ich bin doch kein kleines Kind mehr. Eine Zahnspange musste ich ja auch niemals tragen, weil ich als Baby nur ganz wenig am Daumen genuckelt habe. Dafür hab ich mir alles andere in den Mund gesteckt, von Sand und Steinchen über Tannenzapfen, Ameisen und Schnecken bis hin zu Stiften und allem, was eine lange zylindrische Form aufwies – und daran hat sich wohl bis heute nichts geändert.
    Durch den dichten Nebel ringsum ist es, als verwandle sich die Fahrt des Zuges in ein Schweben. Überhaupt scheint alles in dieser Suppe aus Feuchtigkeit, die sich nicht entschließen mag, was sie nun eigentlich sein will, Gas oder Flüssigkeit, zu schweben, ein unappetitlich grauer Eintopf aus Zäunen, vereinzelten kahlen Bäumen, Kühen, die noch nicht für den Winter in den Stall gebracht worden sind, und immer mehr Schafen, dann und wann ein paar einsame Gebäude, die ebenso gut verlassene Ruinen sein könnten und die ab und an zu Ortschaften und Kleinstädten anwachsen, in denen der Zug vielleicht sogar kurz hält. Aber nirgendwo Menschen, nicht auch nur ein einziger. Als hätte der Nebel, einer Kreatur aus einem Horrorfilm gleich, sie in Angst und Schrecken versetzt und sie in ihre Häuser getrieben, wo sie nun säßen und zitterten und hofften, er möge nicht durchs Schlüsselloch oder die Ritze unter der Tür zu ihnen hereingekrochen kommen, sie mit seinen Schlierenfingern berühren und zu neuen Nebelschwaden auflösen – ein schönes Bild, in Berlin würde ich jetzt vielleicht in mein Atelier gehen und versuchen, es in meiner klassischen Manier auf die Leinwand zu bringen. Es könnte ein starkes Bild werden, eins, das viel Raum für Interpretation ließe, ein nackter, irgendwie konturloser, nicht fassbarer Mann in einem Kreis aus nackten Männern, die sich bei seiner Berührung in Rauch auflösen: ein König Midas des Nebels.
    Ich würde jetzt sehr gerne malen. Stattdessen sitze ich in einem Zug auf dem Weg ins Kurzzeitasyl auf einer windigen Insel in einer kalten, immer hungrigen See. Es ist wie damals, als ich aus Regensburg zurückkehrte, nachdem ich die Neuigkeiten über Karsten und den notwendigen Zerfall seiner Familie erfahren hatte. Hätte ich damals schon gewusst, was ich heute weiß, ich wäre gelähmt vor Entsetzen heimgekommen, nicht mehr ein noch aus wissend.

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