Die unsicherste aller Tageszeiten
Selbstgerechtigkeit weiter ihre üppigsten Blüten trieben. Meine Brüder waren die Erben des Königreichs, ihr Weg war vorgezeichnet und sie wurden dementsprechend ausgebildet, ich dagegen war nur der kleine Prinz ohne weitere Funktion und Aufgabe, und man lehrte mich, diese Freiheit als Privileg zu begreifen und auszukosten. Unsere Kinderzimmer glichen einem dauerhaften Kriegsschauplatz.
Mama rieben wir zwischen unserem Gezänk, Gebrüll und Geheul auf, bis sie selbst schrie und weinte und um sich schlug, was uns einschüchterte, bis wir die Hilflosigkeit, die Überforderung dahinter begriffen. Dann aber gelang es ihr, uns mit einem einzigen Handstreich in die Schranken zu weisen: Sie brachte ein Mädchen zur Welt. Ihre Tochter, unsere Schwester – Papas kleine Prinzessin. Nicht dass ich da bereits die Gunst meines Vaters verloren hätte, aber jetzt musste ich sie teilen, und das relativierte so einiges. Meine Brüder sahen es jedenfalls mit Genugtuung und kümmerten sich geradezu herzerwärmend um ihr kleines Nesthäkchen. Im Gegenzug ignorierten sie mich oder straften mich bestenfalls noch mit Verachtung. Sie entfremdeten meine Schwester von mir, zogen sie auf ihre Seite, und ich stand schließlich vollkommen allein da, nur mehr Papa hinter mir wissend. Auch hier hatte jedoch längst ein Erosionsprozess begonnen, war die innige Harmonie zwischen uns eingerissen wie ein Tischtuch, das zu oft gebraucht, beschmutzt, gewaschen, gebügelt und wieder gebraucht worden ist. Ich war elf, da wurde der Bruch zum ersten Mal für alle sichtbar.
Jedes Jahr im Februar, wenn anderswo Karneval gefeiert wurde, feierte man bei uns im Dorf Fasching. Dafür wurde der größte Saal der einzigen Dorfgaststätte für einen Tag gemietet und hergerichtet, sodass nachmittags die Kinder und abends die Eltern sich austoben konnten. Als Kind liebte ich diesen einen Nachmittag im Jahr, weil ich eine unheimliche Freude dabei empfand, mich zu verkleiden – im Gegensatz zu heute, wo ich es ja nur noch entkleidet liebe. Weil ich mich allerdings nie so recht entscheiden konnte, was genau ich eigentlich sein wollte, weil ich immer beides sein wollte, Cowboy und Indianer, wählte ich eben auch eine Kostümierung, die beides widerspiegelte. Ich ging als Cowboy mit Sheriffstern auf der Brust, jedoch nicht mit Cowboyhut auf dem Kopf, sondern mit dem wallenden Federschmuck eines Indianerhäuptlings, und das Gesicht hatte ich mir wie ein indianischer Krieger auf dem Kriegspfad geschminkt. Eine wilde Mischung, die auf jeden Fall Aufsehen erregte. Also genau das, was ich wollte. Mit den Jahren verlor sich dieser Effekt dann, die Leute hatten sich an den kleinen Exzentriker, der ich sein wollte, gewöhnt, und ich verlor mein Interesse an Cowboys und Indianern. Mit elf schließlich wollte ich etwas Neues ausprobieren, und das war nichts Geringeres, als Frau oder Mädchen zu gehen.
Zum Teil zeichneten für diesen Wunsch meine Schwester und Mutter verantwortlich oder vielmehr ihre Garderobe, allen voran Röcke und Kleider, die, sind sie gut geschnitten und passend ausgewählt, eine unheimliche Eleganz erzeugen können. Sobald mir das aufgefallen war, spielte ich damals sogar für ein paar Wochen mit dem Gedanken, Modeschöpfer zu werden, so schön fand ich es. Ich wollte jemals weder ein Mädchen noch eine Frau sein, aber einmal sehen, wie sich eine solche Kleidung anfühlt, das wollte ich schon. Ich hätte natürlich jederzeit an den Kleiderschrank meiner Mutter oder Schwester gehen und es in aller Heimlichkeit ausprobieren können. Keiner hätte etwas merken müssen. Nur wollte ich ja auch, dass jeder es merkte, dass jeder mich sah und – lobend, was denn sonst – darauf reagierte. Und der Fasching bot dafür die mit Abstand beste Gelegenheit.
Der andere Grund für diesen Wunsch fand seine Ursache in den Konkurrenzkämpfen zwischen mir und meinen Brüdern. Mein ältester Bruder, immerhin drei Jahre älter als ich, hatte nämlich selbst zwei Jahre zuvor einmal als Mädchen, als so eine Art Frau Antje aus Holland, zum Kinderfasching gehen wollen. Mama hätte es ihm auch erlaubt, Papa dagegen ging sofort an die Decke, kaum dass er davon gehört hatte. Die Quintessenz seiner Schimpfkanonade lautete: Ein kleiner Junge darf so etwas vielleicht noch tun, ein großer Junge, aus dem mal ein richtiger Mann werden muss, bestimmt nicht. Das war noch, bevor die wahre Bedeutung des Wortes ›schwul‹ in unsere Familie eingezogen war, allein das drohende Unheil,
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