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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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»Nun erzähl schon!«
    »Also gut«, gab ich mich gönnerhaft und erzählte, mit dabei sekündlich breiter werdendem Grinsen: »Am Tag unserer Abreise, nachdem wir unsere Zimmer bereits eigenhändig geputzt und die Betten abgezogen hatten, schlich ich mich unter einem Vorwand zurück in meins. Ich hatte dort absichtlich mein Buch vergessen, weißt du. Ich ging es holen, schloss hinter mir die Tür und – kaum war ich allein, zog ich mir die Hosen runter, schlug die Bettdecke zurück, hockte mich aufs Bett und setzte einen riesigen Haufen auf die blanke Matratze. Dann reinigte ich mich mit der Decke und dem Kissen, pisste noch einmal auf alles, drapierte die Decke so, dass man auf den ersten Blick nichts sah und ging. Und eins kannst du mir glauben: Ich bin noch nie so glücklich gewesen, einen Ort wieder verlassen zu dürfen wie damals.«
    Klaus lachte, umarmte mich und liebte mich, wortwörtlich und im übertragenen Sinne. Er wusste ja nicht, dass ich mich später häufiger auf diese Art aus den Betten meiner Männer verabschieden sollte.
    »Das ist wohl gerade eine schöne Erinnerung«, unterbricht mich die vorlaute Witwe am Fenster, »wenn Sie so in sich hineinkichern müssen.«
    »Ach, wissen Sie, ich hab mal einer alten Frau ins Bett geschissen, weil sie so gemein zu mir war, und daran musste ich gerade denken.«
    Drei Augenpaare sehen mich entsetzt an, die elegante Dame zu meiner Linken prustet in ihr Buch und braucht einige Zeit, um sich wieder zu beruhigen.
    Jetzt bin ich endlich so weit, dass ich mich wirklich auf die Nordsee freue, auf ihren feuchten, salzigen Duft, dass ich mich auf Föhr freue, auf Klaus’ kleines Ferienhaus, das mir bisher noch niemals seine erholsame Wirkung versagt hat. Föhr und seine Schwestern, diese Inseln zwischen Watt und Meer, die nur wie aus Versehen von der letzten großen Sturmflut vergessen wirken, zerbrechliche Eilande, abgerissene Landmasse, die jeden Moment untergehen kann. Das Leben findet hinter Schutzwällen statt und in Behausungen, die auf künstlichen Erdhügeln errichtet werden, und immer mit einem Auge auf die See, um den Blanken Hans kommen zu sehen, sollte er endlich auf die Idee kommen, sein ewiges Werk zu vollenden. 1362 mit der zweiten Marcellus- und 1634 mit der Burchardiflut hat er schon große Fortschritte gemacht, viel fehlt jetzt nicht mehr, eine weit ausholende Bewegung seines gewaltigen Arms vielleicht noch und Land und Menschen hier sind ein für alle Mal Geschichte. Und das wäre noch nicht einmal mehr eine Katastrophe, weil sie keiner überlebt hätte, um noch davon zu berichten. Wenn das Wasser in den Prielen plötzlich anschwillt und wie Blut aus platzenden Adern quillt und sich über die Menschen ergießt und sie alle vertilgt. Ihre Schreie werden vom erstickenden Brodem des Sturms verschluckt, der voller Gischt, Sand und Luftdruck ist und der sie schon an normalen Tagen dazu zwingt, sich tief vor ihm zu verbeugen. Wie Schuppen wird es ihnen von den Augen fallen: Das Leben auf den Inseln und Halligen ist nichts weiter als eine jahrhundertealte Illusion, eine hoffnungslose Herausforderung der elementaren Urgewalten. Die Erlösung wird kommen aus Fluten salzigen Wassers – und wie oft habe ich schon davon geträumt, dann einer der Untergehenden zu sein. Das würde doch auf eine vollkommen natürliche Art und Weise alle meine Fehltritte, alles, was ich anderen angetan habe und andere mir, auf einen Schlag berichtigen, ungeschehen machen. Dann gäbe es keinen Grund mehr für Angst, für meine Albträume, geboren aus Samen, den ich mir niemals hätte einverleiben und an andere weiterreichen dürfen. So einfach wäre das.
    Ab und an rüttelt jetzt eine Windböe an unserem Zug, und Regen peitscht gegen das Abteilfenster. Vielleicht besteht ja sogar eine Sturmflutwarnung, denke ich insgeheim, auch wenn das die Überfahrt mit der Fähre in Gefahr bringen würde. Das Schauspiel einer wutschäumenden, sich aufbäumenden See wäre es mir aber wert. Mein Blick gleitet hoffnungsvoll mit dem Zug über die Landschaft, die, je näher wir der Küstenlinie kommen, langsam von Geest zu Marsch wird. Nebel gibt es endgültig keinen mehr, der auflandige Wind hat ihn zerrissen, aufgelöst und seine Reste ins Binnenland getrieben. Ich sehe nackte Felder und abgefressene Wiesen; in diesem Jahr wird darauf kein frisches Grün mehr gedeihen. Ein paar Pferde stehen noch auf den Weiden, zusammengedrängt zu kleinen Grüppchen, in denen sie beieinander Schutz vor dem

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