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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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vorstellen. Sie sind beladen wie die Packesel, während ihre Kinder eher symbolisches Gepäck tragen, Teddybären und Kuschelkissen sowie Unsicherheit ob der fremden Umgebung und der vielen fremden Menschen und der Gereiztheit ihrer eigenen Eltern.
    Kaum werde ich ihrer ansichtig, will ich mich nur noch umdrehen und zum Ausgang am anderen Ende des Waggons gehen, um nur ja nicht in ihren kleinbürgerlich limitierten Dunstkreis zu geraten, der mir schon als Kind immer den Atem geraubt hat. Nur leider steht hinter mir bereits das nächste Modell Kleinfamilie, bestehend aus Vater, Mutter, Baby und Hund, und versperrt mir den Fluchtweg. Ich bin eingekesselt von der Liebe, die nur zu Fortpflanzungszwecken ausgeübt werden darf, und Beklemmung steigt mir in die Kehle. Das kommt mir alles so vertraut vor – und so falsch. Es riecht plötzlich nach Selbstaufgabe und Selbstaufopferung, nach Verantwortung und der Pflicht zur Brutpflege, dieses dumpf proklamierte Heldentum, mit dem man aus der eigenen Unachtsamkeit und der eigenen Selbstüberschätzung nachträglich eine Tugend zu machen sucht. Und das Ende vom Lied ist dann ein verzweifelter Schlankheitswahn, mit dem die Frau um die Gunst ihres Ehemannes buhlt, die sie längst schon an fette Frauen in Pornoheften verloren hat.
    Ich muss endlich raus aus diesem Zug, der nichts weiter zu sein scheint als eine fahrende Krankenstation: Zuerst saß ich in der Geriatrie, jetzt bin ich in der Pädiatrie geraten – und ich mag beide nicht, weder Greise noch Gören. Die Junioren gehen mir auf den Keks, weil sie noch so unfertig sind und andauernd Hilfe brauchen, die Senioren dagegen, weil sie schon wieder zu fertig sind und deshalb ständig Hilfe brauchen. Am schlimmsten aber sind: junge Eltern. Organismen untergegangen in einer Sintflut von Adrenalin, befinden sie sich ständig in überhöhter Alarmbereitschaft um ihre lieben Kleinen, laufen sie durch die Welt mit stets schreckensweit aufgerissenen Augen und Ohren und Mäulern, wittern sie hinter jeder Ecke eine tödliche Bedrohung und in jedem erwachsenen Mann einen potenziellen Kinderschänder. Es sind Kreaturen kurz vor dem Kollaps, denen man eine Überdosis aus Valium und Alkohol gönnt, damit sie endlich Ruhe geben, und zwar nicht aus Mitleid mit ihnen, sondern um selbst Ruhe vor ihnen zu haben. Vor ihnen und ihrer hyperaktiven Nachkommenschaft, an denen jeder Erziehungsversuch sowieso vergeudet ist und die man sich in einen dunklen, nassen und kalten Kaspar- Hauser-Keller wünscht.
    Ob wir, meine Familie und ich, damals wohl auch so ein desaströses Bild menschlichen Daseins und Zusammenlebens abgegeben haben? – Jede Wette, wir waren noch schlimmer!
    Endlich hält der Zug, wieder mit einem harten Ruck, der uns Stehende wanken lässt wie von der Kugel gestreifte Kegel. Das Zwillingsbrüderpärchen, das sich possierlich an den Händen festhält, reißt es sogar von den Beinen, und obwohl sie tapfer sein wollen und es zu unterdrücken suchen, wird aus ihrem Schluchzen schnell ein ausgewachsenes Weinen. Mama stürzt sich sofort auf ihre beiden kleinen Lieblinge, wobei sie mit ihrem Rucksack, in dem sich Kleidervorräte für ein ganzes Jahr befinden müssen, ihre Tochter am Kopf streift und sie rückwärts gegen die Wand taumeln lässt. Dort stößt sie sich dann auch noch den Rücken an einem Griff. Das ist zu viel, sie fängt ebenfalls an zu weinen und muss nun von Papa getröstet werden. Dabei giftet der Vater nach der Mutter ein gepflegtes »Pass doch auf!«, und die Mutter antwortet ihm mit einem »Nerv mich nicht!«
    Der grüne Türöffnungsknopf leuchtet auf, die den Ausgang blockierenden Eltern kriegen es nicht mit. Also drängle ich mich vor und drücke auf den verdammten Knopf, um uns alle von diesem Trauerspiel zu erlösen. Dabei führe ich mich natürlich rücksichtslos auf wie ein Trampeltier, doch das erschöpfte Zischen der Pneumatik, als sich die Tür endlich öffnet und frische salzige Seeluft in den Wagen strömt, übertönt zum Glück das hilflos-verärgerte »Pass doch auf, du Idiot, hier sind kleine Kinder!« des Herrn Papas.
    »Nimm das nächste Mal doch das Auto, Blödmann«, konterte ich, »dann haben wir alle weniger Stress.«
    »Arschloch!«, ruft er mir hinterher, während er mit seiner Bagage aus dem Zug quillt, und ich das Weite suche.

KAPITEL 4
    Ich stürme zum Fahrkartenschalter, ein Glashäuschen, in dem eine dicke Frau hockt wie eingequetscht: ein verendeter aufgedunsener Walfisch in einem

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