Die unsicherste aller Tageszeiten
bei jeder sich bietenden Gelegenheit mir heimlich die Schwänze meiner Kameraden anzuschauen. Ich entwickelte für mich das Spiel ›Erkenne den Träger‹, bei dem es darum ging zu erraten, welcher Kerl an welchem Schwanz hing – und das wurde nur deshalb niemals langweilig, weil alles andere noch langweiliger war und hier immerhin noch die Gefahr bestand, entdeckt zu werden. Was dann wohl passiert wäre? Ich fantasierte mir natürlich sofort eine echte Orgie zusammen. Ich wurde niemals entdeckt.
Dabei litten wir alle kollektiv an Hormonstau. Der eine oder andere wedelte sich nachts, wenn er alle anderen schlafend glaubte, mal einen von der Palme, und wenn ich es mitbekam, klackerte ich dazu solidarisch mit meinen Kokosnüssen. Und einmal hatte ich sogar echten Sex in der Kaserne, das erste Mal seit Karsten. Tief in der Nacht und kurz und hastig und kaum wirklich befriedigend. Es geschah auf der Toilette, wo ich einen Kameraden beim Wichsen überraschte. Erst ließ er es zu, dass ich mich neben ihn stellte und mitmachte, dann ließ er mich anfassen, schließlich fasste er mich an. Alles ging blitzschnell, und je näher er dem Orgasmus kam, je größer seine Lust wurde, desto stärker wurden auch seine Schuldgefühle. Er kam mit nackter Panik in den Augen und sah hinterher zu, dass er zurück auf seine Stube kam. Ich ließ ihn ziehen, mich bemühend, mich nicht gekränkt zu fühlen, und wischte noch die Spuren unserer kleinen Aktion weg, bevor auch ich mich wieder hinlegte. Weder Kaserne noch Kameraden weinte ich nach Ablauf der Dienstzeit eine Träne nach, nur in den Augen meines Vaters meinte ich fortan so etwas wie eine gewisse stumme Anerkennung zu sehen, Anerkennung dafür, das Abenteuer ohne irgendwelche nennenswerten Probleme durchgestanden zu haben. Das hätte er wohl niemals für möglich gehalten, und mit jemandem wie ihm in der Kompanie wäre es auch kaum möglich gewesen.
Während ich den loseren Nervenenden meiner Gedanken gefolgt bin, haben wir längst die Eider bei Friedrichstadt überquert, in Husum gehalten und Orte mit Namen wie Hattstedt, Breklum, Bredstedt, Langenhorn oder Risum-Lindholm durchfahren. Erst der völlig belanglose Halt in Niebüll dringt mir wieder ins Bewusstsein, und zufrieden stelle ich fest, dass ich mich jetzt einfach nur noch angenehm matt fühle und gar nicht mehr so getrieben. Die Reise scheint endlich ihre beruhigende Wirkung zu entfalten, denke ich und fange langsam an, mich wieder in meiner Haut wohlzufühlen. Als Nächstes kommt Dagebüll, dann ist wieder eine Etappe geschafft. Und das Wetter hat auch etwas aufgeklart, der Nebel ist verschwunden, der graue Nieselregen, der stattdessen eingesetzt hat, stört mich nicht so. Der gehört hier eher dazu, zur Küste, zur See, zum Marschland, das sich Schutz suchend hinter die Deiche duckt. Ich mag Regen nicht besonders, ich halte ihn für fast so überflüssig und unnütz wie Schneefall, aber hier stört er mich nicht so sehr, hier mag ich sogar im Regen spazieren gehen. Weil ich das Land hier so sehr mag.
Schon als Kind, lange bevor Klaus mich das erste Mal herbrachte, war ausgerechnet Nordfriesland der Sehnsuchtsort meiner Träume. Wenn ich schon meiner Familie nicht entrinnen konnte, so wünschte ich mir, wenigstens nicht im Binnenland mit größerer Nähe zur eher harmlosen Ostsee aufwachsen zu müssen, sondern als Friese an der wilden, unzähmbaren Nordsee, die immer wieder versucht, Land und Menschen und Vieh mit sich in die Tiefe zu reißen. Das ist spektakulär, das verspricht Spannung und ist nicht so langweilig wie das heimische Holstein, das einfach zu sehr Idylle ist, mehr so was für alte Leute. Das hätte auch unseren Familienverhältnissen, die geprägt waren von ständiger Sturm- und Sturmflutwarnung, entsprochen. Wir waren keine Familienidylle, bei uns herrschte nicht in allen vier Jahreszeiten dasselbe nasse bis feuchte Wetter, deren Wandel sich lediglich durch ein leichtes Steigen oder Fallen des Thermometers und Laub an den Bäumen oder nicht bemerkbar machte. Holstein, das ist zugunsten der Landwirtschaft bereinigte Flur, ganz gezähmte Natur, Vieh auf den Weiden, Früchte auf den Feldern, Knicks dazwischen und ab und an ein kleiner Bach, eine als Gemeindegrenze dienende Au. Manche Straße wird von einer Allee gesäumt, hin und wieder findet sich ein altes Herrenhaus oder sogar kleines Schloss, nennenswerte Industrie gibt es kaum, ebenso wie echte Städte. Der Menschenschlag ist eher zurückhaltend und
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