Die unsicherste aller Tageszeiten
Schaukasten. Dem augenscheinlich langweilig ist, denn kaum habe ich meinen Wunsch, ein Einzelfahrschein nach Wyk auf Föhr, nur Hinfahrt, Datum der Rückfahrt noch unbekannt, geäußert, fängt er auch schon an zu plappern.
»Na, Sie haben sich aber mal ein Mistwetter zum Reisen ausgesucht, ne«, redet die tranige Speckschwarte in schönstem Norddeutsch drauflos. »Aber was so ein richtiger Seebär ist, der lässt sich davon ja nicht abkriegen, ne.«
»Sicher«, sage ich, ihr über den wulstigen Mund fahrend. Ich will mich nicht mit ihr unterhalten, sie ist nur eine Randerscheinung auf meinem Weg. »Wann geht die nächste Fähre?«
»In fünfundvierzig Minuten.«
»Und die wird auch ganz bestimmt fahren? Es ist nicht zu windig?«
»Nein.«
»Kein Sturm, keine Sturmflut angekündigt?«
»Bei dem büschen Wind? Nein.« Die Eingeborene interpretiert meine Nachfragen falsch, als die des Landeis vor den Elementen. »Sie sind wohl zum ersten Mal hier?«
»Nein!«
»Vor dem Meer müssen Sie sich nicht fürchten«, fährt sie fort, als hätte sie mich hinter dem Glas gar nicht gehört. »Das ist nur manchmal etwas wild, aber bestimmt nicht heute. Heute spielt es nur mit uns.«
»Ich habe keine Angst vor dem Meer!«, fahre ich sie an. »Ich bin nicht das erste Mal hier. Ich habe schon eine Sturmflut mitgemacht. Ich …«
Sie erhebt abwehrend die Hände. »Entschuldigung.«
»Ich wollte nur sichergehen, dass die Fähre auch abgeht heute.«
»Das wird sie. Pünktlich wie immer.«
»Danke.«
Bevor die Fettsardine in ihrer Büchse noch etwas sagen kann, drehe ich, das Ticket in meinen Händen, ab und sehe zu, dass ich Land gewinne. Für meinen Geschmack habe ich ihr sowieso schon zu viel erzählt. Zwar ist eine Dreiviertelstunde Wartezeit auf die nächste Fähre eine Menge Holz, besonders hier, wo mir mein Ziel so dicht vor den Augen liegt, und irgendeine Form ablenkender Unterhaltung zur Überbrückung wäre da schon ganz hilfreich, aber nicht um jeden Preis.
Ich verziehe mich an die Wasserkante, wo der Wind in teils wuchtigen Böen auf das Land trifft. Einen Strand gibt es hier nicht, nur grünen Deich mit Schafen drauf und gleich dahinter entweder Flutwasser oder Ebbeschlick. Im Augenblick herrscht Flut, angetrieben vom Wind drückt das Wasser etwas über Normalnull gegen den Deich. Deshalb bleibe ich oben auf der Deichkrone stehen und blicke hinaus in das trübe Grau der Nordsee, in dem schnell Himmel und Meer ununterscheidbar eins werden. Ich atme tief ein, öffne meine Lungen dem Seewind und Nieselregen, und beides schmeckt angenehm nach Salz. Und der Wind zerrt auch an meinen Haaren, saust in meinen Ohren und bricht sich Bahn in meinen Kopf, in meine Gedanken. Kaum habe ich mich den Naturgewalten ausgesetzt, da rütteln sie auch schon an meinen Erinnerungen, treiben Risse in diese dicke Schicht Kopfguano und lassen sie einzeln in schweren Placken davonfliegen. Ich atme immer tiefer ein, mit tränenden Augen stehe ich da und fühle, wie ich endlich leicht und frei werde. Ich weiß schon gar nicht mehr so recht, wie mir eigentlich geschieht, obwohl ich doch genau das hier gewollt habe. Es ist fast schon beängstigend, mit welcher Intensität es mich auseinanderreißt, als wäre ich ein müder Baum im Herbststurm.
Ballast fällt von mir ab, der ganze Festlandballast, den ich ohnehin nicht mit auf die Insel habe nehmen wollen, und noch ein bisschen mehr. Nicht nur meine Eltern und Geschwister, Karsten und Klaus, mein Galerist und Hannes und all die anonym gebliebenen Typen, nichts als eine Parade von Schwänzen, Schweiß und Sperma, von brünstigem Männerfleisch, das auch keiner weiteren Erinnerung würdig ist. Ebenso geht die Erinnerung an die Orte, an denen ich sie alle getroffen habe, verloren. Unorte recht eigentlich, unwirtlich und surreal, wenig mehr als eine hormonüberladene Fantasie. Räume, nichts weiter, Räume voller Dunkelheit, in denen wir uns nackt bewegen und in denen wir uns nur deshalb nicht unserer Nacktheit schämen oder fürchten, weil die Dunkelheit uns wieder ankleidet. Die Dunkelheit lässt nur das beherzte begehrende Zugreifen zu oder das gleichgültige Vorbeidriften, aber keine Ablehnung, da sie uns alle mit segensreicher Blindheit schlägt. Was wir mit den Augen nicht sehen können, können wir mit den Augen auch nicht ablehnen, Hände und Haut aber sehen nicht, sondern fühlen nur, und das Fühlen folgt anderen Maßstäben als das Auge. Die Augen sind an die Wirklichkeit gebunden,
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