Die unsicherste aller Tageszeiten
widrigen Wetter suchen. Die Kühe hier sind längst im Stall, das Schaf beherrscht die Flur. Als Ansammlung schmutzweißer Flecken bedeckt es alte, viel zu niedrige Deichanlagen, die zeigen, bis wohin früher einmal das Meer stand, ehe der Mensch ihm das Land mühsam abgerungen hat. Immer öfter stehen Häuser und Gehöfte auf Warften. Wie haarige Warzen erheben sie sich aus der dunkelgrünen Fläche. Und all die wenigen niedrigen Bäume neigen sich schief nach Osten, nicht weil sie Mekka oder die Morgensonne anbeteten, sondern weil sie sich vor dem strengen auflandigen Wind ducken.
Nirgendwo ein Mensch – kein Mann nirgends. Kein Begehren, keine Verführung, kein Austausch von Körperflüssigkeiten, nur ich, schmorend in den Ausdünstungen meiner eigenen unbewiesenen Befürchtungen. So soll es sein.
Was andere Menschen für faszinierend halten an fremden Ländern und Kulturen, Farben, Geräuschen, Gerüchen, kann ich nicht nachempfinden oder kann ich jeden Tag in meinem Atelier erfahren, wo ich mit Farben fremde Landschaften eigenhändig erschaffe, während mir dabei der Duft der sich vermischenden Farben in die Nase steigt und meine Sinne betört, fremde Geräusche aber draußen vor der Tür bleiben, weil die sowieso nur stören. Ich muss nicht verreisen, wenn ich malen kann. Die Farbflecke an meinen Fingern sind mir das, was Reisenden die Erdkrümel eines fremden Bodens sind, in den sie, warum auch immer, genussvoll hineingreifen. Ich muss nicht verreisen, um weg zu sein, und deshalb halte ich es so gut lange an ein und demselben Ort aus. Wenn mich nicht gerade berufliche Verpflichtungen rund um die Welt führen, nach New York, Sydney, Tokio oder sonst wohin, dann bleibe ich lieber zu Hause und erkunde meine eigene Nachbarschaft. Das, was ich da finde, reicht als Inspirationsquelle für meine Arbeit mehr als aus – und manchmal treibt es mich sogar in die Flucht.
Nur für die nordfriesische Küste mache ich hin und wieder eine Ausnahme.
Klaus konnte davon nichts wissen, als er mich einlud, mit ihm ein paar Tage in seinem Ferienhaus auf Föhr zu verbringen. Ebenso wenig konnte er wissen, was Nordfriesland mir als Sehnsuchtsort bedeutete. In der kurzen Zeit, die wir da erst zusammen waren, hatten wir noch nicht darüber gesprochen. Über vieles andere ja, über Familie, Freunde, Lieblingsmaler, die politische Lage, aber darüber noch nicht. Ich hatte ja noch nicht einmal gewusst, dass Klaus auf Föhr ein eigenes Ferienhaus besitzt. Aber so war das eben mit ihm, alles – wir – passten perfekt zusammen, obwohl er sogar drei Jahre älter ist als mein Vater, im Gegensatz zu diesem aber äußerst warmherzig und liebevoll. Er las mir einfach jeden Wunsch von den Augen ab.
Wir fuhren in Klaus’ luxuriösem BMW, wie es für den Spross und Alleinerben einer alteingesessenen Hamburger Fabrikantendynastie standesgemäß war – und für den aufstrebenden Maler, der sein Liebhaber war. Ich war ein Mitreisender, ein Begleiter, ein Eingeladener, ganz aufgeregt ob der verheißungsvollen Aussicht auf ein paar Tage Verwöhnurlaub. Damals war ich glücklich und unbeschwert, mein Leben die goldene Zukunft höchstselbst. Was ich auch tat, Malerei, Liebe oder einfach nur Sex, es gelang mir und erfüllte mich sorglos – ich fühlte mich unsterblich.
Der Zugführer kündigt als unseren nächsten Halt in wenigen Minuten Dagebüll Mole an. Ich stoße einen Erleichterungsseufzer aus, endlich diesem rollenden Seniorenstift entrinnen zu können, packe meine Sachen und verlasse das Abteil.
»Eine gute Reise noch allerseits«, wünsche ich.
»Auf Wiedersehen«, antwortete mir die elegante Dame, während alle anderen meinen Abgang mit eisigem Schweigen begleiten.
Es ficht mich nicht an, sie sind quasi schon vergessen, sobald ich die Abteiltür hinter mir zuggezogen habe. Ich freue mich jetzt nur noch auf Föhr.
Wie labil meine Stimmung trotzdem noch ist, merke ich, als ich das dicke Menschenknäuel sehe, das sich bereits vor dem Ausgang staut. Ein Haufen großer und kleiner Menschen drängt sich da, zusätzlich noch durch Unmengen von Gepäck aufgeblasen. Mir am nächsten steht eine junge Familie – Vater, Mutter, Tochter, Zwillingssöhne –, die puren Reisestress ausdünstet. Man kann es den beiden Erwachsenen deutlich ansehen, dass sie sich nur noch auf die Ankunft in ihrem Feriendomizil freuen, die von Furcht untergrabene Hoffnung, dort auch wirklich alles so schön vorzufinden, wie sie es sich die ganze Zeit über schon
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