Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
war diejenige, die mich von sich gestoßen hat.« Doch während er das sagte, spürte er eine Art Druckveränderung, einen leisen Schock, der in seinen Ohren pochte. Ja, sie hatte ihn fortgestoßen, mehr als einmal. Aber er hatte sie auch von sich gewiesen. Als sie in Nizza, im Hotel Taureau d’Or, kurz davor gewesen war, ihm von ihrer Vergangenheit zu erzählen, da hatte er sie allein am Tisch sitzen lassen, statt ihr zuzuhören. Und als er später an jenem Abend im Ferienhaus von ihr verlangt hatte, reinen Tisch zu machen, hatte er es so grob getan, dass sie ganz eingeschüchtert gewesen war. Dann hatte er ihre Sachen gepackt und sie zurück nach Paris gefahren. Seither hatte er genau einmal versucht, sie zu sehen. Er hatte eine einzige Postkarte geschrieben, ihre Sachen zurückgebracht und sich dann darangemacht, sie aus seinem Kopf, aus seinem Leben zu tilgen. So hatte ihre gemeinsame Liebe ein sauberes, trauriges Ende genommen: eine abgegebene Kiste mit Habseligkeiten, eine unbeantwortete Karte. Nie würde er die Enthüllungen hören müssen, die ihn verletzen konnten oder verändern würden, wie er von ihr dachte. Nein, er hatte sich dafür entschieden, seine Vorstellung von ihr zu bewahren – seine Erinnerung an ihren kräftigen kleinen Körper, an die Art, wie sie ihm lauschte und mit ihm sprach, an ihre gemeinsamen Nächte in seinem Zimmer. Sosehr er sich auch eingeredet hatte, alles über sie wissen zu wollen, hatte sich ein Teil von ihm doch verängstigt zurückgezogen. Er dachte, er würde sie lieben, doch was er geliebt hatte, war nicht sie mit all ihren Facetten – genauso wenig, wie die silbrigen Bilder auf jenen uralten Postkarten oder ihr Name auf einem elfenbeinfarbenen Umschlag alles gewesen waren.
»Meinst du, sie will mich sehen?«, fragte er Elisabet.
Lange sah sie ihn an, und schwach wärmte Erleichterung die kalten blauen Tümpel ihrer Augen. »Frag sie selbst«, sagte sie.
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19.
Eine Gasse
IN DEN NEUN WOCHEN, in denen er Klara nicht gesehen hatte, war die Zeit nicht untätig gewesen. Die Erde zog weiter ihre Bahn um die Sonne, Deutschland war ins Sudetenland einmarschiert, und Veränderungen waren in den engeren Kreis seines Lebens vorgedrungen. Seine morgendlichen Unterweisungen bei Vago waren vorüber; die Absolventen des letzten Jahres waren fort; die neuen Studenten aus dem ersten Semester horchten stumm, wenn ihre Arbeit im Atelier von Andras und seinen Klassenkameraden beurteilt wurde. Er hatte sich die französische Sprache angeeignet, sodass sie die Schwelle zum Unbewussten überschritten und sich im Territorium seiner Träume niedergelassen hatte. Er hatte sein Praktikum im Architekturbüro angetreten, seine erste Stellung auf dem von ihm gewählten Fachgebiet. Und bei Forestier gab es neue Bühnenbilder: einen perspektivisch verkürzten Parthenon und einen Wald aus säulenähnlichen Phalli für Lysistrata , außerdem einen Salon für Der Kirschgarten , dessen Wände aus hauchdünnem Leinen und verborgenen Lichtern bestanden und im Laufe des Stückes immer durchsichtiger wurden, bis sie schließlich verschwanden und den Blick auf die Baumreihen dahinter freigaben.
Dann sein Zimmer auf der Rue des Écoles: Andras hatte den Tisch in die Nische unter der Dachschräge geschoben, wo er Entwürfe an die Decke heften konnte. Er hatte sich eine Lampe mit grünem Schirm besorgt und Abbildungen an die Wände geklebt – nicht von den Ozeandampfern und Eisbergen, die seine Professoren entwickelten, nicht von der gewaltigen Pariser Architektur, sondern die schlichten eiähnlichen Formen ghanaischer Hütten, die nestartigen Ansammlungen indianischer Felsenwohnungen und die goldenen Steinmauern Palästinas. Andras hatte die Behausungen aus Zeitschriften und Büchern abgezeichnet und mit den in Nizza günstig erworbenen Farben koloriert. Auf dem Boden lag jetzt ein dicker roter Teppich, der nach Holzrauch roch, auf dem Bett ein butterfarbener Überwurf, genäht aus einem gerissenen Theatervorhang. Und vor dem Ofen stand ein tiefer, niedriger Sessel aus verblasstem zinnoberroten Plüsch, Strandgut, das er eines Morgens auf dem Bürgersteig vor dem Haus gefunden hatte. Vornüber hatte das Möbelstück dort in einer äußerst entwürdigenden Pose gelegen, als sei es nach einer durchzechten Nacht nach Hause gewankt, aber die Treppe nicht mehr hochgekommen. Der Sessel hatte einen lustigen Begleiter, einen Hocker mit Fransen und Knopfpolsterung, der wie ein struppiger kleiner Hund
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