Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
aussah.
In diesem Sessel saß Klara nun. Andras hatte ihr geschrieben, hatte ihr mitgeteilt, dass er sie sehen wolle, hatte sie um ihre Gesellschaft für einen einzigen Abend gebeten. Auch wenn er sich vorgemacht hatte, mit keiner Antwort zu rechnen, hoffte er doch, dass Elisabet auf ihre Mutter einwirken würde, ihm zurückzuschreiben. An diesem Abend dann war er von Forestier heimgekehrt und hatte sie im Sessel vorgefunden, die schwarzen Schuhe auf dem Boden daneben wie zwei Viertelnoten. Andras blieb in der Tür stehen und starrte Klara an, voller Furcht, sie könne eine Erscheinung sein; sie stand auf und nahm ihm die Tasche von der Schulter, schob die Arme unter seinen Mantel und drückte ihn an ihre Brust. Da war ihr Geruch nach Lavendel und Honig, der brotähnliche Duft ihrer Haut. Dessen Vertrautheit brachte ihn fast zum Weinen. Andras legte den Daumen in die Mulde ihrer Kehle, berührte den bernsteinfarbenen Knopf ihrer Bluse.
»Du siehst blass aus«, sagte sie. »Und dünn, als hättest du nichts gegessen.«
»Da haben wir etwas gemeinsam«, gab Andras zurück und musterte ihr Gesicht. Die Haut unter ihren Augen war violett schattiert; der sandige Goldton ihres Teints zu Elfenbein verblasst. Sie war fast durchsichtig, als hätte ein Windstoß sie leer gefegt. Ihre Körperhaltung machte den Eindruck, als würde jeder Teil ihres Körpers schmerzen.
»Ich koch dir einen Tee«, sagte er.
»Mach dir keine Mühe.«
»Glaub mir, Klara, das ist keine Mühe.« Andras kochte Wasser und goss ihnen beiden Tee auf. Dann schürte er das Feuer und setzte sich auf den fransigen Fußhocker. Er schob Klaras Rock bis über das Knie hoch, hakte die Metallösen ihres Strumpfhalters von den Gumminoppen und zog ihr die Strümpfe aus. Er streichelte ihre Beine nicht, obwohl er es gerne getan hätte; er vergrub sein Gesicht nicht in ihren Oberschenkeln. Stattdessen nahm er ihre Füße in die Hände und fuhr mit den Daumen über die Wölbungen.
Sie stieß ein leichtes Stöhnen aus, einen Seufzer. »Warum bleibst du bei mir?«, fragte sie. »Was willst du von mir?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Klara. Vielleicht nur das hier.«
»Ich bin so unglücklich, seit wir aus Nizza zurück sind«, sagte sie. »Ich konnte mich kaum aus dem Bett schleppen. Ich konnte nichts essen. Ich konnte keinen Brief schreiben und kein Kleid flicken. Als es aussah, als würde Frankreich in den Krieg ziehen, redete ich mir ein, dass du dich freiwillig melden würdest.« Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. »Zwei schlaflose Nächte lang habe ich versucht, den Mut aufzubringen, zu dir zu gehen, aber ich bekam so furchtbare Kopfschmerzen, dass ich nicht mehr aufstehen konnte. Ich konnte nicht unterrichten. Ich bin noch nie zu krank zum Unterrichten gewesen, in fünfzehn Jahren nicht. Frau Apfel musste den Eltern Bescheid sagen …«
»Du hast sie auch gebeten, mich wegzuschicken, falls ich dich besuchen würde.«
»Ich war überzeugt, dass du nur kommen würdest, um mir zu sagen, dass du in den Krieg ziehst. Diese Nachricht hätte ich nicht verkraftet. Und dann hast du meine Sachen zurückgebracht. Gott, Andras! Ich habe deine Karte hundert Mal gelesen. Hundert Mal habe ich eine Antwort verfasst und wieder verworfen. Alles, was ich schrieb, wirkte falsch oder feige.«
»Und dann zog Frankreich doch nicht in den Krieg.«
»Nein. Und ich freute mich ganz egoistisch, obwohl ich wusste, was das für die Tschechoslowakei bedeutet.«
Andras lächelte traurig. »Ich habe dir aber nicht alle Sachen zurückgegeben. Das Gedicht über Anne qui luy jecta de la Neige habe ich behalten.«
Klara schüttelte den Kopf und legte die Stirn in die Handfläche, ihr Ellenbogen ruhte auf der Armlehne des Sessels. »Als diese Woche dein Brief kam, sagte meine Tochter, sie würde jeglichen Respekt vor mir verlieren, wenn ich nicht sofort losginge, um dich zu treffen.« Sie hielt inne und lächelte ihn schief an. »Zuerst habe ich mich nur gewundert, dass sie überhaupt noch Respekt vor mir hat. Dann kam ich zu dem Entschluss, es sei besser, zu dir zu gehen.«
»Klara«, sagte er, rückte näher heran an sie und nahm ihre Hände in seine. »Es tut mir leid, aber ich muss dir jetzt ein paar schwierige Fragen stellen. Ich muss wissen, was in deinem Kopf vorging, als wir von Nizza zurückkamen. Du musst mir von diesem Mann erzählen – ich weiß nicht mal, wie er heißt. Elisabets Vater. Du musst mir sagen, warum du nach Frankreich gegangen
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