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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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hatte und zurück in seine eigene Wohnung geschlurft war, kam er zu dem Schluss, den Tiefpunkt seiner Trauer erreicht zu haben. Der Gedanke selbst war schon heilsam. Wenn dies der Nadir war, dann würde es von nun an besser werden. Er hatte den Bruch mit Klara vollzogen. Jetzt musste er ohne sie weitermachen. Bald würde der Unterricht an der École Spéciale wieder beginnen; er durfte im zweiten Jahr nicht wegen Klara durchfallen. Ebenso wenig konnte er sich aufhängen, von einer Brücke springen oder sonst wie der griechischen Tragödie frönen. Er musste sich wieder seinem Leben widmen. Das waren Andras’ Gedanken, als er am Fenster seiner Dachkammer stand und auf die Rue des Écoles hinabsah, immer noch mit der wilden, unbeugsamen Hoffnung im Herzen, Klara mit ihrem roten Hut und wehenden Mantelschößen käme um die Ecke gelaufen, um ihn zu besuchen.
    Doch als ihr Schweigen in die siebte Woche ging, verflüchtigten sich selbst seine abwegigsten Hoffnungen. Und das Leben, gleichgültig gegenüber seinem Kummer, ging einfach weiter. Wie alle Studenten der École Spéciale kehrten Rosen und Ben Yakov nach Paris zurück, Rosen in einem Zustand chronischer Wut über das, was in der Tschechoslowakei passiert war und immer noch passierte, Ben Yakov blass vor Liebe zu einem Mädchen, das er im Sommer in Italien kennengelernt hatte, die Tochter eines orthodoxen Rabbiners aus Florenz. Er hatte geschworen, sie als seine Braut nach Paris zu holen; zu diesem Zweck hatte er eine Beschäftigung in der Bibliothèque Nationale angenommen, wo er sein Geld damit verdiente, Bücher in die Regale einzusortieren. Rosen hatte auch eine neue Leidenschaft: Er war der Ligue Internationale Contre L’Antisémitisme beigetreten und besuchte unentwegt Versammlungen und Kundgebungen. Andras selbst hatte weniger Zeit denn je, um über die Sache mit Klara nachzudenken. Durch Vagos Empfehlung war ihm das Architekturpraktikum angeboten worden, für das er sich im Frühjahr beworben hatte. Dafür musste er seine Stunden bei Forestier reduzieren, doch er würde ein geringes Praktikantengehalt bekommen, das seinen Verlust kompensierte. Jetzt saß Andras plötzlich drei Nachmittage pro Woche an der Seite eines Architekten namens Georges Lemain und spielte die dem jüngsten Zuarbeiter vorbehaltene Rolle des Entwurfabhefters, Radierers, Kaffeekochers, Rechenschiebers. Lemain war ein linealschmaler Mann mit einem schnittigen Kopf kurzen grauen Haars. Er sprach ein schnelles, metallisches Französisch und zeichnete mit maschinenartiger Präzision. Oft ärgerten sich seine Kollegen über ihn, weil er bei der Arbeit Opernarien sang. Aus diesem Grund hatte man Lemain in die hinterste Ecke des Büros verbannt, abgeschirmt durch Bücherregale mit alten Ausgaben von L’Architecture d’Aujourd’hui . Da Andras an einem bescheidenen Tischlein neben Lemains gewaltigem Reißbrett hockte, konnte er die Melodien bald mitsingen. Als Gegenleistung für Andras’ Duldsamkeit und Eifer begann Lemain, ihm bei seinen Schulprojekten zu helfen. Lemains rasante Glaskonstruktionen und polierte Steinflächen fanden nach und nach ihren Weg in Andras’ Entwürfe. Der Architekt ermutigte Andras, eine Künstlermappe mit persönlichen Skizzen anzulegen, Arbeiten, die nichts mit seinen Projekten für die École Spéciale zu tun hatten; er ermunterte Andras, ihm seine selbst entwickelten Ideen zu zeigen. Und so wagte Andras an einem Nachmittag Ende Oktober, die Entwürfe für das Ferienhaus in Nizza mitzubringen. Lemain breitete die Pläne auf seinem Arbeitstisch aus und beugte sich über die Aufrisse.
    »So eine Mauer hält in Nizza keine fünf Jahre«, sagte er und umrahmte einen Teil von Andras’ Zeichnung mit den Daumen. »Denken Sie an das Salz. Es setzt sich in den Spalten fest.« Er legte ein Blatt Pauspapier über Andras’ Entwurf und zeichnete eine glatte Wand hinein. »Aber Sie haben eine geschickte Möglichkeit gefunden, das Gefälle zu nutzen. Die offene Ausrichtung von Patio und Terrasse passt gut zum Gelände.« Er legte ein weiteres Pauspapier auf die Rückansicht und vereinte zwei Terrassenebenen zu einem abschüssigen Hang. »Aber vermeiden Sie zu viele Terrassenstufen. Erhalten Sie die Form des Hangs. Da könnte man Rosmarin pflanzen, um das Erdreich zu befestigen.«
    Andras beobachtete, führte im Kopf weitere Änderungen durch. Im grellen Bürolicht wirkten die Entwürfe weniger wie eine Blaupause für das von ihm erträumte Leben als wie der leere

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