Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
isst kaum etwas. Sie hört keine Musik. Sie schläft die ganze Zeit. Und sie schimpft mit mir wegen jeder Kleinigkeit. Mal sind meine Noten in der Schule nicht gut genug, dann mache ich meine Aufgaben nicht richtig oder spreche im falschen Ton mit ihr.«
»Und das soll meine Schuld sein?«
»Wessen sonst?«, sagte sie. »Du hast sie fallen lassen. Du kommst nicht mehr zu uns. Du hast ihre Sachen zurückgeschickt.«
Sofort war seine Trauer wieder da, als hätte sie ihn nie verlassen. »Was sollte ich denn tun?«, fragte er. »Ich habe es so lange ertragen, wie ich konnte. Sie wollte mich nicht sehen, mir nicht schreiben. Und ich habe sie besucht. Nach Rosch ha-Schana war ich da, als alle von einer Evakuierung redeten. Frau Apfel sagte, deine Mutter würde niemanden empfangen, mich schon gar nicht. Auch danach hat sie mir keine Nachricht geschickt. Ich musste es aufgeben. Ich musste ihren Willen respektieren. Und ich musste selbst aufpassen, nicht den Verstand zu verlieren.«
»Du bist also gegangen, weil es einfacher für dich war.«
»Ich bin nicht gegangen, Elisabet. Ich habe ihr zusammen mit ihren Sachen eine Karte geschickt. Darauf stand, dass meine Gefühle für sie unverändert sind. Sie hat nicht darauf geantwortet. Sie will mich nicht sehen.«
»Wenn das stimmt, warum ist sie dann so unglücklich? Es ist ja nicht so, dass sie jemand anderen träfe. Sie geht nicht mehr aus. Abends ist sie immer zu Hause. Sonntagnachmittags liegt sie im Bett.« Der Kellner brachte den Tee, und Elisabet rührte Milch in ihre Tasse. »Sie lässt mich keinen Moment mit Paul allein. Ich muss mich mitten in der Nacht aus dem Haus schleichen, um ihn zu treffen.«
»Ach, darum geht es also? Du möchtest mit Paul allein sein?«
Zornig funkelte sie ihn an, den Mund vor Abscheu zusammengepresst. »Du bist ein Dummkopf, weißt du das? Ein richtiger Esel. Auch wenn du es nicht glaubst, aber es ist mir wichtig, wie es meiner Mutter geht. Wichtiger als dir offenbar.«
»Es ist mir auch wichtig!«, rief er und beugte sich über den Tisch. »Diese Sache hat mich fast wahnsinnig gemacht. Aber ich kann ihr die Entscheidung nicht abnehmen, Elisabet. Ich kann nicht dafür sorgen, dass sie etwas für mich empfindet, wenn da nichts ist. Wenn wir miteinander reden sollen, muss sie diejenige sein, die den ersten Schritt tut.«
»Aber das kann sie nicht, verstehst du das nicht? Ihr geht es einfach zu schlecht. Daran hält sie sich fest, weißt du? Das ist immer der Sinn ihres Lebens gewesen. Und letzten Endes geht es mir dadurch auch schlecht.« Elisabet warf einen kurzen Blick auf ihre Hand, wo Andras erstmals einen Ring am vierten Finger bemerkte: einen Diamant mit zwei blattförmigen Smaragden. Als er ihn betrachtete, drehte sie gedankenverloren daran.
»Paul und ich sind verlobt«, sagte sie. »Er will mich mit nach New York nehmen, wenn ich nächsten Juni mit der Schule fertig bin.«
Andras hob eine Augenbraue. »Weiß deine Mutter davon?«
»Natürlich nicht! Du weißt, was sie sagen würde. Sie will, dass ich warte, bis ich dreißig bin, ehe ich einen Mann angucke – offenbar damit ich so ende wie sie; alt und allein.«
»So ein Unfug, darum geht es ihr doch nicht! Sie war zu jung, als sie dich bekam. Sie möchte nicht, dass du es so schwer hast wie sie.«
»Ich will dir mal was sagen«, begann Elisabet und warf ihm ihren granitharten Blick zu. »Ich würde nie so enden wie sie. Wenn ich von einem Mann schwanger würde, der mich nicht liebt, dann wüsste ich, was ich zu tun hätte. Ich kenne Mädchen, die das gemacht haben. Ich würde das tun, was sie hätte tun sollen.«
»Wie kannst du so was sagen!«, gab Andras zurück. »Sie hat ihr ganzes Leben aufgegeben, um dich großzuziehen.«
»Das ist nicht meine Schuld«, sagte Elisabet. »Und es bedeutet nicht, dass sie immer noch für mich entscheiden kann, wenn ich achtzehn bin. Ich werde heiraten, wen und wann ich will. Ich werde mit Paul nach New York gehen.«
»Du bist ein selbstsüchtiges Kind, Elisabet.«
»Wen nennst du hier selbstsüchtig?« Sie kniff die Augen zusammen und zeigte über den Tisch mit dem Finger auf Andras. »Du bist derjenige, der sie fallen lassen hat, als sie depressiv wurde. Ein Mensch in diesem Zustand lädt keine Freunde zum Essen ein oder verschickt Liebesbriefe! Aber sie hat dir wahrscheinlich nie viel bedeutet, nicht? Du wolltest ihr Liebhaber sein, aber du wolltest sie nie richtig kennenlernen.«
»Natürlich wollte ich das!«, rief er. »Sie
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