Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
bist.«
Sie seufzte und schaute aus dem Fenster ins Trübe. »Elisabets Vater«, sagte sie und fuhr mit der Hand über die Samtlehne des Sessels. »Dieser Mann.«
Und dann erzählte sie ihm, obwohl es schon nach Mitternacht war, ihre Geschichte.
Im zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts wurden die besten Ballettschüler in Budapest von Viktor Wasiliewitsch Romankow unterrichtet, dem eigensinnigen, exzentrischen dritten Sohn einer verarmten russischen Adelsfamilie. In Sankt Petersburg hatte Romankow an der Kaiserlichen Ballettschule studiert und im berühmten Ensemble des Mariinski-Theaters getanzt; mit fünfunddreißig verließ er es, um seine eigene Schule zu gründen, wo er Hunderte von Tänzern ausbildete, darunter die große Olga Spiesiwcewa und Alexandra Danilowa. Als junger Mann hatte er selbst darum gekämpft, die Essenz der Präzision in seine Tanztechnik zu destillieren; seine Bemühungen, die Physiologie des Tanzes zu entmystifizieren, und die Geduld, die er bei seiner eigenen Ausbildung entwickelt hatte, machten ihn zu einem außergewöhnlich erfolgreichen Lehrer. Sein Ruhm verbreitete sich gen Westen und überquerte den Atlantik. Als seine Familie auch den Rest ihres einst großen Vermögens in den ersten Revolutionswirren verlor, floh er aus Sankt Petersburg, um auf den Spuren seines Helden Diaghilew, des Gründers des Ballets Russes, nach Paris auszuwandern. Doch als Romankow Budapest erreichte, war er erschöpft und hatte kein Geld mehr. Völlig ungeplant verliebte er sich in jene Stadt der Brücken und Parks, der mit kunstvollen Mosaiken verzierten Paläste und baumgesäumten Prachtstraßen. Es vergingen nur wenige Tage, da holte er Erkundigungen über das Königlich-ungarische Ballett ein; es stellte sich heraus, dass die Akademie ein hoffnungslos veraltetes Unterrichtssystem hatte und dringend eine Veränderung brauchte. Die künstlerische Leiterin der Schule hatte schon von Romankow gehört. Er war genau der Typ Ballettmeister, den die Schule engagieren wollte; die Leiterin war überglücklich, Romankow in ihrem Lehrkörper zu haben. Und so war er in Budapest geblieben.
Klara war eine seiner ersten Schülerinnen gewesen. Mit neun Jahren hatte sie bei ihm angefangen. Eines Tages hatte er einen Spaziergang durch das jüdische Viertel gemacht und sie durch ein Fenster üben sehen; Romankow marschierte schnurstracks in die Ballettschule, nahm Klara inmitten ihrer Kameradinnen bei der Hand und erzählte ihrer Lehrerin, er sei ein Freund der Familie, das Mädchen müsse in einer dringenden Angelegenheit nach Hause. Draußen erklärte er Klara, er sei ein Ballettlehrer aus Sankt Petersburg, er habe ihr Talent erkannt und wolle sie tanzen sehen. Dann ging er mit ihr zur Königlichen Ballettschule auf der Andrássy út, einem Bienenstock aus Übungsräumen, viel heruntergekommener als die Schule, die Klara gerade hinter sich gelassen hatte. Der Boden war grau vom Alter, die Klaviere zerkratzt, an den Wänden hing nicht ein einziger Degas-Druck, die Luft roch nach Füßen, Satinschuhen und Terpentinharz. An jenem Tag war kein Unterricht; die Säle waren leer bis auf das sonderbare Summen, das in Räumen schwebt, die lange Zeit von Musik und Tanz erfüllt gewesen sind. Romankow nahm Klara mit in einen der kleineren Säle und setzte sich ans Klavier. Während er ein Menuett spielte, führte sie ihren Schmetterlingstanz aus dem vergangenen Jahr vor. Die Musik war die falsche, aber das Tempo stimmte; beim Tanzen hatte Klara das Gefühl, etwas Schicksalhaftes gehe vor sich. Als sie endete, klatschte Romankow, Klara verbeugte sich. Sie sei hervorragend für ihr Alter, sagte er, und noch nicht zu alt, sodass er ausbügeln könne, was an ihrer Technik falsch sei. Sie müsse ihre Ausbildung auf der Stelle beginnen; dies sei die Schule, wo sie zur Ballerina werden würde. Er müsse noch am selben Tag mit ihren Eltern reden.
Die neunjährige Klara, geschmeichelt von seinem Blick in ihre Zukunft, nahm ihn mit nach Hause zur Villa ihrer Eltern auf der Benczúr utca. Im Salon mit den lachsfarbenen Sofas verkündete Romankow Klaras verblüffter Mutter, dass ihre Tochter in der Tanzschule auf der Wesselényi utca nur ihre Zeit vergeude und sich sofort an der Königlichen Ballettschule einschreiben müsse. Möglicherweise stände Klara eine leuchtende Zukunft im Ballett bevor, doch zuerst müsse er den Schaden beheben, den ihre jetzige Lehrerin angerichtet habe. Er führte Frau Hász die manierierte Haltung von Klaras Hand
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