Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Grundriss einer Auftragsarbeit. Jener Raum musste kein Ballettstudio sein – es war lediglich ein lichtdurchfluteter salon . Und die zwei kleinen Schlafzimmer im Hauptgeschoss mussten nicht unbedingt als Kinderzimmer genutzt werden; sie konnten chambres 2 und 3 heißen, einzurichten ganz nach Kundenwunsch. In der Küche mussten nicht die Reste einer verlassenen Mahlzeit stehen; im chambre principal mussten nicht unbedingt zwei ungarische Emigranten oder sonst jemand Bestimmtes untergebracht werden. Den ganzen Nachmittag radierte und zeichnete Andras, bis er glaubte, die Geister aus dem Entwurf vertrieben zu haben.
Mit den aufgerollten Plänen und Lemains Pauspapier unter dem Arm machte er sich auf den Weg zur Rue des Écoles. Das Geräusch des trockenen Laubs, das Knistern seiner Schritte auf dem Trottoir erinnerte ihn an die tausend Herbstnachmittage in Konyár, Debrecen und Budapest, an den verbrannten Geruch von gerösteten Maronen im gusseisernen Kessel des Straßenverkäufers, an die steife graue Wolle der Schuluniformen, an die Vasen des Blumenhändlers, die plötzlich mit Weizengarben und samtgesichtigen Sonnenblumen gefüllt waren. Andras blieb vor dem Schaufenster eines Fotografenateliers an der Rue des Écoles stehen, wo gerade eine neue Porträtreihe ausgestellt war: ernst blickende Pariser Kinder in Bauernkleidung posierten vor einer gemalten Erntekulisse. Alle trugen glänzend frisch polierte Schuhe. Andras musste laut lachen, als er sich vorstellte, wie es ausgesehen hätte, wenn Tibor, Mátyás und er selbst in den Klamotten, die sie als Kinder getragen hatten, vor einem richtigen Heuwagen postiert worden wären: keine schmucken Kittel und Hosen, sondern von ihrer Mutter genähte braune Arbeitshemden, aufgetragene Latzhosen, Stricke als Gürtel, Mützen aus dem Stoff der zerschlissenen Mäntel ihres Vaters. An den Füßen trugen sie den feinen braunen Staub Konyárs. Ihre Taschen wären prall gefüllt mit kleinen harten Äpfeln gewesen, die Arme schwer vom Verpacken der Heuballen für die benachbarten Bauern. Vom Haus wehte der kräftige rote Geruch von Hühner-Paprikás herüber; ihr Vater hätte so viel Holz für neue Heuwagen und Scheunen verkauft, dass sie jeden Freitag bis zum Winter Hühnchen essen würden. Es war eine gute Zeit, die warmen Tage nach der Heuernte im Oktober. Die Luft war noch weich und duftig, der Teich, der bald zufrieren würde, ein strahlendes flüssiges Oval, in dem sich Mühle und Himmel spiegelten.
In der Fensterscheibe des Fotografen huschte ein verschwommener Umriss über die Kinderporträts: das kurze Aufleuchten eines grünen Wollmantels, der goldenen Garbe eines Zopfes. Das Spiegelbild überquerte die Straße in Andras’ Richtung. Als es näher kam, fügten sich die anonymen Gesichtszüge zu einer Form, die er kannte: Elisabet Morgenstern. Sie schlug ihm derb auf die Schulter, und Andras drehte sich um.
»Elisabet«, sagte er. »Was machst du denn am Donnerstagmorgen im Quartier Latin? Triffst du dich mit Paul?«
»Nein«, sagte sie und starrte ihm ernst in die Augen. »Ich will zu dir.« Sie holte ein Döschen mit Lutschpastillen aus der Tasche und klopfte sich eine auf die Handfläche. »Ich würde dir ja auch eine anbieten, aber ich hab fast keine mehr.«
»Was ist los?«, fragte er, und seine Eingeweide zogen sich zusammen. »Ist etwas mit deiner Mutter?«
Elisabet rollte die Pastille im Mund herum und zermalmte sie zwischen den Zähnen. Als sie sprach, traf Andras ein Hauch Anis. »Ich will nicht hier auf der Straße reden«, sagte sie. »Können wir nicht irgendwo hingehen?«
Das La Colombe Bleue war in der Nähe, aber Andras wollte nicht auf seine Freunde treffen. Deshalb führte er Elisabet um die Ecke den Hang hinauf zum Café Bédouin, wo er sich, wie es ihm erschien, vor Ewigkeiten mit Klara auf ein Glas getroffen hatte. Seit jenem Abend war er nicht mehr dort gewesen. Hinter der Theke stand immer noch die zahnlückige Phalanx von Spirituosen, und dieselben verblassten fliederfarbenen Vorhänge hingen vor den Fenstern. Sie setzten sich an einen Tisch vor der Polsterbank und bestellten Tee.
»Worum geht’s denn?«, fragte er, als der Kellner gegangen war.
»Was auch immer du da mit meiner Mutter machst, hör auf damit«, sagte Elisabet.
»Ich weiß nicht, was du meinst. Ich habe sie seit Wochen nicht mehr gesehen.«
»Darum geht es ja! Um es offen zu sagen, Andras, du benimmst dich wie der letzte Halunke. Meiner Mutter geht es miserabel. Sie
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