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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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verlieben. Jetzt kann ich mir nicht mehr vorstellen, woanders zu leben. Nach gewisser Zeit wird es Ihnen genauso gehen.«
    »Ich fühle mich jetzt schon ein wenig so.«
    »Warten Sie’s ab«, sagte Vago grinsend. »Das wird nur noch schlimmer.«
    Morgens kaufte Andras sein Brot in den kleinen Bäckereien unweit seines Mietshauses und die Zeitung bei einem Stand an der Ecke; wenn er dem Besitzer seine Münzen in die Hand fallen ließ, sang der Mann ein kehliges Merci . In seiner Mansarde aß er dann das Croissant und trank süßen Tee aus dem leeren Marmeladenglas. Er schaute sich die Abbildungen in der Zeitung an und versuchte, die Nachrichten über den spanischen Bürgerkrieg zu verfolgen, in dem die Front Populaire immer mehr Boden an die Nationalistes verlor. Andras erlaubte sich nicht, eine ungarische Zeitung zu kaufen, um seine Wissenslücken zu füllen; die Dringlichkeit der Nachrichten erleichterte die mühevolle Übersetzung. Täglich gab es Meldungen über neue Gräueltaten: Jugendliche im Graben erschossen, ältere Herren im Olivengarten mit dem Bajonett erstochen, Brandbomben auf Dörfer abgeworfen. Italien beschuldigte Frankreich, sein eigenes Waffenembargo zu unterlaufen; große Lieferungen sowjetischer Munition erreichten die republikanische Armee. Auf der anderen Seite hatte Deutschland seine Legion Condor auf zehntausend Mann aufgestockt. Andras las die Nachrichten mit wachsender Verzweiflung, mitunter neidisch auf die jungen Männer, die davongelaufen waren, um für die Internationalen Brigaden zu kämpfen. Jetzt ging es jeden an, das wusste er; jede andere Meinung war Leugnen.
    Den Kopf voll grausiger Bilder, ging er dann über laubbedeckte Trottoirs zur École Spéciale und lenkte sich ab, indem er architektonische Bezeichnungen auf Französisch wiederholte: toit, fenêtre, port, mur, corniche, balcon, balustrade, souche de cheminée . In der Schule lernte er den Unterschied zwischen Stereobat und Stylobat, Metope und Triglyph; er lernte, welcher der Professoren insgeheim das Dekorative dem Praktischen vorzog und wer Perrets Betonkult anhing. Mit seinem Statikkurs besuchte Andras Sainte-Chapelle, wo er lernte, wie bereits die Baumeister des 13. Jahrhunderts eine Möglichkeit entdeckt hatten, das Gebäude mithilfe von Eisenstreben und Metallträgern zu verstärken. Die Stützen waren in den Rahmen der Bleiglasfenster verborgen, die sich über die gesamte Höhe der Kapelle zogen. Während das Morgenlicht in roten und blauen Streifen durch die Scheiben fiel, stand Andras in der Mitte des Kirchenschiffes und erlebte so etwas wie eine mystische Ekstase. Unwichtig, dass es eine katholische Kirche war, dass die Fenster Jesus Christus inmitten von Heiligen darstellten. Was Andras empfand, hatte weniger mit Religion als mit einem Gespür für Harmonie, mit der perfekten Vereinigung von Form und Funktion in diesem Bauwerk zu tun. Ein langer, senkrechter Raum, der den Pfad zu Gott oder zu einem tieferen Verständnis der Mysterien darstellte. Dies war das Werk von Architekten, viele Jahrhunderte alt.
    Pierre Vago hielt Wort und unterrichtete Andras jeden Morgen eine Stunde lang. Das Französisch aus seiner Schulzeit kehrte rasch zurück, und innerhalb eines Monats hatte er weit mehr gelernt als je bei seinem Lehrer am Gimnázium. Ab Mitte Oktober bestand der Unterricht nur noch aus langen Gesprächen; Vago hatte ein Händchen für die Auswahl von Themen, die Andras zum Sprechen brachten. Er fragte ihn nach seinen Jahren in Konyár und Debrecen – was er gelernt hätte, wie seine Freunde gewesen seien, wo er gelebt, wen er geliebt habe. Andras erzählte Vago von Éva Kereny, dem Mädchen, das ihm im Garten des Déri-Museums in Debrecen einen Kuss gegeben und ihn anschließend kaltblütig verschmäht hatte; er erzählte die Geschichte von dem einzigen Paar Seidenstrümpfe seiner Mutter, einem Chanukka-Geschenk von Andras, das er ihr hatte kaufen können, weil er die Zeichenaufgaben seiner Mitschüler erledigt hatte. (Jeder der Brüder hatte sich Mühe gegeben, der Mutter das schönste Geschenk zu machen; als sie die Strümpfe erblickte, reagierte sie mit einer so kindlichen Freude, dass niemand Andras’ Sieg in Zweifel ziehen konnte. Später am Abend hockte Tibor draußen im Garten auf Andras’ Rücken und drückte sein Gesicht in den gefrorenen Boden – die Rache des großen Bruders.) Vago, der selbst keine Geschwister hatte, hörte gerne die Geschichten von Mátyás und Tibor; er ließ sich von Andras

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