Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Er konnte nicht begreifen, dass er diesen Zeichnungen die Zulassung für die Hochschule zu verdanken hatte. Er hatte keine Möglichkeit gehabt, die Künstlermappe einzureichen, die er für seine Bewerbungen an ungarischen Architekturkollegs benutzte – Detailzeichnungen von Parlament und Palast, maßstabgetreue Wiedergaben der Innenansichten von Kirchen und Bibliotheken, Arbeiten, für die er stundenlang an seinem Schreibtisch bei Vergangenheit und Zukunft gehockt hatte. Doch er fürchtete, dass sogar jene Bilder im Vergleich zu Vagos Werk, diesen klaren Maßzeichnungen und prachtvollen Aufrissen an den Wänden, ungelenk und amateurhaft gewirkt hätten.
»Ich bin hier, um zu lernen, Herr Professor«, sagte Andras. »Diese Linolschnitte sind schon ziemlich alt.«
»Das sind hervorragende Arbeiten«, sagte Vago. »Da ist eine Genauigkeit, eine Präzision in der Perspektive, die man selten findet bei einem ungeschulten Künstler. Sie sind ein großes Naturtalent, das ist offensichtlich. Die Kompositionen sind streng symmetrisch, aber ausgewogen. Die Themen sind klassisch, aber die Linienführung ist modern. Sie haben ein hervorragendes Stilempfinden, das wird Ihnen im Studium sehr zugutekommen.«
Andras griff nach dem Umschlagentwurf, der den Mann mit seinen Söhnen beim Gebet zeigte. Die Linoldruckplatte hatte er bei Kerzenlicht in der Wohnung auf der Hársfa utca geschnitten. Obwohl er es damals nicht gemerkt hatte – warum eigentlich nicht, wo es ihm jetzt so deutlich ins Auge sprang? –, war der Mann im Tallit sein Vater, und die Söhne waren seine Brüder.
»Das ist gute Arbeit«, sagte Vago. »Ich war nicht der Einzige, der das fand.«
»Das ist keine Architektur«, sagte Andras und reichte Vago das Titelbild zurück.
»Architektur werden Sie lernen. Und in der Zwischenzeit lernen Sie Französisch. Das ist die einzige Möglichkeit, hier zu überleben. Ich kann Ihnen helfen, aber ich kann nicht in jedem Kurs für Sie übersetzen. Sie werden also jeden Morgen herkommen, eine Stunde vor Atelierbeginn, und mit mir Französisch üben.«
»Hier bei Ihnen, Herr Professor?«
»Ja. Von jetzt an werden wir nur noch Französisch sprechen. Ich bringe Ihnen alles bei, was ich weiß. Und jetzt hören Sie um Himmels willen auf, mich immer mit ›Herr Professor‹ anzusprechen, da komme ich mir ja uralt vor.« Vago setzte einen ernsten Blick auf, aber verzog den Mund nach links zu einem französisch wirkenden schiefen Grinsen. »L’architecture n’est pas un jeu d’enfants« , sagte er mit einer tiefen, volltönenden Stimme, die in Tonhöhe und -lage genau der von Professor Perret entsprach. »L’architecture, c’est l’art plus sérieux de tout.«
»L’art plus sérieux de tout«, wiederholte Andras in derselben tiefen Stimme.
»Non, non!« , rief Vago. »Nur ich darf mit der Stimme von Monsieur le Directeur sprechen. Sie sprechen bitte wie Andras, der kleine Student. Ich bin Andras, der kleine Student« , sagte Vago auf Französisch. »Wiederholen Sie bitte!«
»Ich bin Andras, der kleine Student.«
»Ich werde von Monsieur Vago lernen, perfekt Französisch zu sprechen.«
»Ich werde von Monsieur Vago lernen, perfekt Französisch zu sprechen.«
»Ich wiederhole alles, was er sagt.«
»Ich wiederhole alles, was er sagt.«
»Aber nicht mit der Stimme von Monsieur le Directeur.«
»Aber nicht mit der Stimme von Monsieur le Directeur.«
»Darf ich Sie etwas fragen?«, sagte Vago dann mit ernster Miene auf Ungarisch. »War es richtig, Sie herzuholen? Fühlen Sie sich schrecklich einsam? Ist das alles überwältigend für Sie?«
»Ja, es ist überwältigend«, erwiderte Andras. »Aber irgendwie fühle ich mich sonderbar glücklich.«
»Mir ging es furchtbar, als ich herkam«, sagte Vago und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Drei Wochen nach meinem Abschluss an der Schule in Rom kam ich her und begann an der Beaux-Arts. Aber das war nichts für einen Menschen von meinem Temperament. Die ersten Monate sind einfach nur grässlich gewesen! Ich hasste Paris voller Inbrunst.« Er schaute aus dem Bürofenster in den eisigen grauen Nachmittag. »Jeden Tag lief ich herum, ließ alles auf mich wirken – die Bastille und die Tuileries, den Luxembourg, Notre-Dame, die Ópera – und verfluchte jeden einzelnen Stein in dieser Stadt. Das hier ist etwas ganz anderes als Budapest, falls Sie es noch nicht bemerkt haben. Nach einer Weile wechselte ich an die École Spéciale. Und dort begann ich, mich in Paris zu
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