Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
der Schneegans schließlich auflöste, schrieb Mendel die nächste, und Andras illustrierte sie wieder. Ermutigt durch die Beliebtheit der ersten Ausgabe, gingen sie mit ihrer Zeitung direkt zum Büro, in dem ein Vervielfältigungsapparat stand. Sie boten dem Kompaniesekretär zwanzig Pengő Schweigegeld an. Trotz des Risikos einer Bestrafung und des Verlusts seiner Stellung druckte der Sekretär zehn Exemplare, die schnell in den Reihen der 112/30 verschwanden. Es folgte eine Ausgabe mit dreißig Exemplaren. Wenn die Männer die Zeitung lasen und darüber lachten, bekam Andras das Gefühl, er sei aus einem langen Koma erwacht. Er staunte darüber, wie schwach er gewesen war, wie bereitwillig er zugelassen hatte, dass sein Verstand von quälenden Gedanken erobert und ausgehöhlt wurde. Nun zeichnete er jeden Tag. Sicher, es waren alberne kleine Skizzen, doch sie spendeten ihm Sauerstoff, machten die Mühe des Atmens lohnenswert.
An einem unwirtlichen, nassen Tag im März wurden Andras und Mendel schließlich ins Büro des Kommandeurs bestellt. Die Vorladung wurde ihnen von Major Kálozis Oberleutnant überbracht, einem finster dreinblickenden, eberähnlichen Mann mit dem unglücklichen Namen Grimasz. Zur Essenszeit näherte er sich Andras und Mendel auf dem Sammelplatz und schlug ihnen die Blechschalen aus der Hand. Er hatte ein Exemplar der jüngsten Schneegans dabei, die ein Liebesgedicht von einem gewissen Leutnant G. an einen bestimmten Major K. und weitere Anspielungen auf die Beziehung zwischen den beiden enthielt. Das Gesicht von Leutnant Grimasz war feuerrot, sein Hals schien auf das Doppelte der normalen Größe angeschwollen. Er zerknüllte die Zeitung in seiner klotzigen Faust. Die anderen Männer traten einen Schritt von Andras und Mendel zurück, die somit in den vollen Genuss von Grimasz’ böse funkelnden Augen kamen.
»Kálozi will euch in seinem Büro sehen«, knurrte er.
»Sofort, Herr Oberleutnant«, sagte Mendel und wagte ein Zwinkern in Andras’ Richtung.
Grimasz bemerkte den Tonfall, das Zwinkern. Er hob die Hand und wollte Mendel ohrfeigen, doch der duckte sich unter dem Schlag hindurch. Die Männer johlten verhalten. Grimasz schnappte sich Mendel am Kragen und schubste und zerrte ihn ins Büro, während Andras im Eiltempo folgte.
Major János Kálozi war kein grausamer Mensch, aber er war ehrgeizig. Als Sohn einer Zigeunerin und eines wandernden Messerschleifers war er über den Munkaszolgálat aufgestiegen und hoffte nun auf die Versetzung in eine waffentragende Einheit beim Militär. Seine momentane Aufgabe war ihm zugewiesen worden, weil er sich tatsächlich mit Forstwirtschaft auskannte; vor der Übersiedlung nach Ungarn in den Zwanzigerjahren hatte er in den Wäldern Transsilvaniens gearbeitet. Bisher war Andras noch nie in sein Büro gerufen worden, das in der einzigen Baracke mit Veranda und eigenem Außenabort untergebracht war. Kálozi hatte natürlich das Zimmer mit dem größten Fenster in Beschlag genommen. Das hatte sich als Fehler erwiesen. Das Fenster, das aus vielen kleinen Scheiben bestand, ließ die Kälte fast ungehindert herein. Kálozi war gezwungen, die Art von Armeedecken davorzuhängen, wie sie in der Modekolumne angepriesen wurden, sodass es im Büro so dunkel wie im Keller war. Im Raum schwebte der Geruch von Pferden; bevor die Decken ihrem jetzigen Zweck zugeführt wurden, waren sie in einem Stall aufbewahrt worden. Kálozi saß in der Mitte dieser Düsternis hinter einem riesengroßen Stahltisch. Eine Kohlepfanne hielt den Raum gerade so warm, dass man ahnte: Es gab tatsächlich warme Zimmer, dieses jedoch gehörte nicht dazu.
Andras und Mendel standen stramm, während Kálozi die fast vollständige Serie der Schneegans durchblätterte, angefangen im Dezember 1940 und abgeschlossen durch die aktuelle Nummer vom 7. März 1941. Nur die zerfallene erste Ausgabe fehlte. In der Zeit, in der der Major die 112/30 geführt hatte, war er sichtlich gealtert. Das Haar an seinen Schläfen war grau geworden, und über seine breite Nase zog sich ein Netz winziger roter Äderchen. Wie ein verdrossener Schuldirektor schaute er zu Andras und Mendel auf.
»Spaß und Spiele«, sagte er und nahm die Brille ab. »Bitte erklären Sie mir das, Gruppenführer Lévi. Oder soll ich Sie Parisi nennen?«
»Das war meine Idee, Herr Major«, sagte Mendel. Er hielt seine Munkaszolgálat-Mütze in den Händen, sein Daumen fuhr über den Messingknopf auf der nach oben strebenden Spitze.
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