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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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hatten Gerüchte gehört, was in anderen Kompanien des Arbeitsdienstes vor sich ging, und keiner von beiden war so naiv zu glauben, so etwas sei bei der 112/30 nicht möglich. Am erschreckendsten war der Fall eines Bruders von einem ihrer eigenen Kameraden, der zum Arbeitsbataillon von Debrecen gehört hatte. Weil der Mann einen Laib Brot aus der Vorratskammer der Wachmannschaft gestohlen hatte, wurde er zur Strafe nackt ausgezogen und bis zu den Knien im Schlamm eingegraben; dort musste er drei Tage verharren, obwohl es immer kälter wurde, bis er in der dritten Nacht an Unterkühlung starb.
    »Ich spreche mit Ihnen, Gruppenführer Lévi«, sagte Kálozi. »Sehen Sie mich an! Lassen Sie nicht den Kopf hängen wie ein Hund!«
    Andras hob den Blick zu Kálozi. Der Major blinzelte nicht. »Ich habe lange und gründlich über eine passende Strafe nachgedacht«, sagte er. »Zufällig mag ich euch ganz gerne. Ihr seid gute Arbeiter. Aber ihr habt mich lächerlich gemacht. Ihr habt mich vor meinen Leuten lächerlich gemacht. Und deshalb, Lévi und Horovitz« – und Kálozi machte eine dramatische Pause und schlug mit der aufgerollten Ausgabe der Schneegans auf den Schreibtisch –, »deshalb müsst ihr leider eure eigenen Worte essen.«
    Das war der Grund, warum Andras und Mendel sich um sechs Uhr morgens an einem kalten Märztag vor der versammelten 112/30 wiederfanden, entblößt bis auf die Unterwäsche, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Zehn Ausgaben der Schneegans lagen vor ihnen auf der Bank. Vor den Augen der Arbeitsmänner riss Leutnant Grimasz die Zeitung in Streifen, knüllte sie zusammen, tunkte sie in Wasser und stopfte sie den Verlegern Lévi und Horovitz in den Mund. Über einen Zeitraum von zwei Stunden mussten sie beide zwanzig Seiten der Schneegans essen. Während Andras seine Zähne vor den drängenden Fingern von Grimasz zusammenpresste, dämmerte ihm zum ersten Mal die Erkenntnis, was für ein angenehmes, beschütztes Leben er, relativ gesehen, bisher im Munkaszolgálat geführt hatte. Nie zuvor waren ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt worden, nie zuvor war er gezwungen worden, ohne Mantel und Hose stundenlang im Schnee zu knien; ganz im Gegenteil, er war genährt, bekleidet und beherbergt worden, und sein Elend wurde durch das Wissen gemildert, dass alle Männer der Kompanie 112/30 das gleiche Elend erlitten. Nun wurde ihm eine neue Form der Hölle bewusst, eine, die er sich kaum vorstellen konnte. Er wusste, dass das, war hier geschah, auf dem großen Messstab der Strafen immer noch als relativ human eingeschätzt würde; weiter oben auf dem Stecken gab es Bestrafungen, bei denen man sich nach dem Tode sehnen konnte. Andras zwang sich, zu kauen und zu schlucken, zu kauen und zu schlucken, redete sich ein, es sei die einzige Möglichkeit, diese grässliche Sache durchzustehen, die ihm gerade widerfuhr. Irgendwann nach dem fünfzehnten Blatt schmeckte er Blut im Mund und spuckte einen Backenzahn aus. Sein Zahnfleisch, aufgeweicht von Skorbut, gab seine Zähne frei. Er kniff die Augen zusammen, aß Papier, mehr Papier und noch mehr Papier, bis er schließlich das Bewusstsein verlor und in den kalten, feuchten Schock des Schnees sackte.
    Er wurde ins Krankenrevier geschleppt und der Obhut des einzigen Kompaniearztes anvertraut, einem Mann namens Báruch Imber, dessen alleiniger Lebenssinn es geworden war, Arbeitsmänner vor den verheerenden Folgen des Arbeitsdienstes zu retten. Imber pflegte Andras und Mendel fünf Tage lang in seinem Krankenrevier, und als sie sich von ihrer Unterkühlung und dem erzwungenen Papierkonsum erholt hatten, diagnostizierte er bei beiden fortgeschrittenen Skorbut und Blutarmut und schickte sie heim nach Budapest zur Behandlung im Militärkrankenhaus, gefolgt von einem zweiwöchigen Heimaturlaub.

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    28.
Heimaturlaub
    NACH EINER EINWÖCHIGEN ZUGREISE, auf der sich Läuse in ihrem Haar einnisteten und ihre Haut zu schuppen und zu bluten begann, wurden sie zusammen mit kranken Zwangsarbeitern in einen Krankentransport verladen. Der Boden des Wagens war mit Heu ausgelegt, dennoch zitterten die Männer unter ihren groben Wolldecken. Sie waren zu acht, und den meisten ging es deutlich schlechter als Andras und Mendel. Ein Mann mit Tuberkulose hatte einen enormen Tumor an der Hüfte, ein anderer war durch die Explosion eines Ofens erblindet, ein dritter hatte den ganzen Mund voller Abszesse. Als sie Budapest erreichten, reckte Andras den Kopf aus dem offenen

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