Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Andras enthielt die Zeitung einen Artikel über ein architektonisches Juwel (Glanzleistung der Ingenieurskunst! Der in Paris ausgebildete Architekt und Ingenieur Andras Lévi hat eine unsichtbare Brücke entworfen. Die Baustoffe sind erstaunlich leicht, und sie kann in kürzester Zeit errichtet werden. Für den Feind ist sie nicht zu sehen. Bei Überprüfungen wurde festgestellt, dass die Konstruktion der Brücke noch verfeinert werden kann; ein Bataillon der ungarischen Armee stürzte unerklärlicherweise beim Überqueren eines Abgrunds in die Tiefe. Andere sind jedoch der Meinung, dass die Brücke bereits eine perfekte Form habe. ). Und dann kam das Glanzstück, die Zehn Gebote des Munkaszolgálat:
1. SOLLTEST DU EINEN SCHWEREN FEHLER MACHEN, SPRICH NICHT DARÜBER. SOLLEN ANDERE DOCH DIE SCHULD ÜBERNEHMEN.
2. DU SOLLST NICHT DEINE EIGENE SÄGE SCHÄRFEN. ÜBERLASS DAS SCHÄRFEN DEMJENIGEN, DER SIE ALS NÄCHSTER BENUTZT.
3. DU SOLLST DIR NICHT DIE MÜHE MACHEN, DICH ZU WASCHEN. DEINE KAMERADEN STINKEN SOWIESO.
4. WENN DU ZUM ESSEN ANSTEHST, SOLLST DU DICH VORDRÄNGELN. SONST ENTGEHT DIR DIE KARTOFFEL IN DER SUPPE.
5. DU SOLLST AUF DEM WEG ZUR ARBEIT VERSCHWINDEN. SOLL DOCH DER VORARBEITER EINEN ERSATZ FÜR DICH SUCHEN.
6. WENN DU DIE HABE DEINES NÄCHSTEN BEGEHRST, BEHALTE ES FÜR DICH. SONST KÖNNTE DIE HABE DEINES NÄCHSTEN VERSCHWINDEN, BEVOR DU SIE STEHLEN KANNST.
7. WENN DEIN KAMERAD NAIV IST, SOLLST DU ALLES VON IHM LEIHEN UND IHM NICHTS ZURÜCKGEBEN.
8. WENN DU VON DER NACHTWACHE HEREINKOMMST, SOLLST DU GROßEN LÄRM MACHEN. WARUM SOLLEN ANDERE SCHLAFEN, WENN DU SELBST WACHST?
9. WENN DU KRANK WIRST, SOLLST DU SO LANGE WIE MÖGLICH IM BETT BLEIBEN. WENN DEINE KAMERADEN DESWEGEN MEHR ARBEITEN MÜSSEN, GENIEßEN SIE VIELLEICHT AUCH BALD DAS PRIVILEG, KRANK ZU SEIN.
10. BEFOLGE DIESE GESETZE, DAMIT DU ZEIT HABEN MAGST, RÜCKSICHT ZU PREDIGEN.
Zuerst missmutig, dann mit wachsender Begeisterung bebilderte Andras Die Schneegans . Für den Wetterbericht zeichnete er mehrere Kästchen, die immer dichter mit Schneeflocken gefüllt waren. Für die Moderubrik erfand er einen Doppelgänger von Mendel, das Haar abstehend, der Körper in eine togaähnliche lumpige graue Decke gewickelt. Auf der Sportseite zogen drei schwitzende Arbeitsmänner Schotterfuhren eine steile Anhöhe hinauf. Die Briefkastentante war eine kesse Coco mit Brille und langen nackten Beinen, die sich einen Stift an die Lippen hielt. Die Urlaubswerbung zeigte einen Sonnenschirm inmitten von Schneeverwehungen. Der Beitrag über den Architekten rief geradezu nach dem Bild eines Ingenieurs, der stolz auf eine leere Schlucht wies. Und für die Zehn Gebote brauchte er nur zwei Steintafeln, die er im Hintergrund andeutete. Als Andras fertig war, hielt er seine Arbeit auf Armeslänge vor sich und betrachtete die Zeichnungen. Es waren Karikaturen der einfachsten Art, eilig im Bett gefertigt. Aber Mendel hatte recht: Sie passten perfekt zur Schneegans .
Die einzige Ausgabe der Zeitung ging durch die Hände von zweihundert Männern, und bald konnte man hören, wie sie in der Essensschlange das Vierte Gebot zitierten oder sehnsüchtig über Urlaub im sommerlichen Siebenbürgen nachdachten. Andras konnte nicht anders, als einen gewissen Stolz zu empfinden, ein Gefühl, das er seit Monaten nicht mehr gehabt hatte. Als feststand, dass der Illustrator, der mit Parisi zeichnete, Gruppenführer Lévi war, traten die Männer mit Anfragen nach Zeichnungen an ihn heran. Die häufigste Bitte war eine nackte Version von Coco. Er zeichnete sie auf den Deckel einer Holztruhe, dann in das Futter einer Mütze und schließlich auf einen Brief, den jemand an seinen jüngeren Bruder schicken wollte, allerdings mit einem Schild mit der Aufschrift »Hallo, Süßer!«. Die Karikatur von Mendel löste eine zweite Welle aus, nämlich sich porträtieren zu lassen; die Männer standen Schlange, damit Andras ein Bild von ihnen anfertigte. Er war kein besonders guter Porträtmaler, aber das schien die Kameraden nicht zu stören. Die Grobheit der Striche, der Kohlenstaub um Augen oder Kinn spiegelten die grundlegende Unsicherheit ihres Lebens im Munkaszolgálat. Mendel Horovitz erhielt ebenfalls Anfragen: Er wurde eine Art professioneller Briefeschreiber, verfasste Liebes-, Reue- und Sehnsuchtsschwüre, die in den wilden Strudel der Feldpost gelangten und nur unter Umständen die Ehefrauen, Brüder und Kinder erreichten, für die sie bestimmt waren.
Als sich die erste Ausgabe
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