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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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die Kompanie an ein Rodungs-und Grabungsprojekt, das den Rest des Herbstes und den Winter über andauern sollte.
    Als es wieder kälter wurde, machte Andras sich bewusst, dass nun ein Jahr vergangen war, ein Jahr , seit er Klara zum letzten Mal gesehen hatte. Von ihrer Ehe hatten sie eine Woche gemeinsam verbracht. Nacht für Nacht lagen Männer weinend oder fluchend in den Betten, weil sie ihre Freundin, ihre Verlobte, ihre Frau verloren hatten, Frauen, die sie geliebt hatten, doch die des Wartens müde geworden waren. Welche Sicherheit hatte er, dass Klara nicht ihrer Einsamkeit müde würde? Sie hatte sich immer mit vielen Menschen umgeben; ihr Bekanntenkreis in Paris hatte aus Schauspielern und Tänzern, Schriftstellern und Komponisten bestanden, aus Menschen, die unablässig Inspiration boten. Was würde sie davon abhalten, ähnliche Verbindungen in Budapest zu knüpfen? Und wenn sie es tat, was würde sie davon abhalten, sich an einen ihrer neuen Freunde zu wenden und von ihm trösten zu lassen? Der Geist von Zoltán Novak erschien Andras eines Nachts im Traum, lief barfuß im Hausmantel durch die Wesselényi utca zur Synagoge auf der Dohány utca, wo eine Frau – es mochte Klara sein – im düsteren Hof auf ihn wartete. Sicherlich hatte Novak inzwischen erfahren, dass Klara zurückgekehrt war; sicherlich würde er versuchen, sie zu treffen. Vielleicht hatte er es bereits getan. Vielleicht war sie in diesem Augenblick bei ihm, in einem Zimmer, das er für ihr Stelldichein gemietet hatte.
    Manchmal hatte Andras das Gefühl, als würde der Arbeitsdienst seinen Verstand davonwehen, nach und nach, wie die Asche eines Feuers. Was würde noch von ihm übrig sein, fragte er sich, wenn er nach Budapest zurückkehrte? Monatelang hatte er darum gekämpft, beim Arbeiten bei klarem Verstand zu bleiben, hatte versucht, wenn er nicht auf Papier zeichnen konnte, auf der Schiefertafel seines Geistes Gebäude und Brücken zu entwerfen, hatte sich die französischen Bezeichnungen der architektonischen Details vorgesungen, um sich wach zu halten, wenn er Schlamm schaufelte oder mit seiner Axt Äste abschlug. Porte, fenêtre, corniche, balcon – ein Zauberspruch gegen den geistigen Verfall. Da die Aussicht auf einen Heimaturlaub nun weiter in die Ferne rückte, begannen seine Gedanken, ihn zu quälen. Er stellte sich Klara mit Novak oder versunken in die Erinnerung an Sándor Goldstein vor; er grübelte über die düstere Entwicklung des Krieges, der nun schon über ein Jahr andauerte. In Zeitungsausschnitten, die ihm sein Vater geschickt hatte, las er von der brutalen Bombardierung Londons, von den Angriffen der Luftwaffe an siebenundfünfzig Nächten in Folge. Und während der Krieg in England tobte, führten er und seine Kollegen einen kleineren Krieg gegen die verheerenden Auswirkungen des Munkaszolgálat. Allmählich begann die 112/30 zu schrumpfen, Mann um Mann: Einer brach sich ein Bein und musste nach Hause geschickt werden, ein anderer fiel in ein diabetisches Koma und starb, ein dritter erschoss sich mit dem Gewehr eines Offiziers, nachdem er erfahren hatte, dass seine Verlobte das Kind eines anderen Mannes zur Welt gebracht hatte. Mátyás war jetzt auch beim Arbeitsdienst, und Tibor war gerade eingezogen worden. Andras hatte Geschichten von Arbeitsdienstkompanien gehört, die zum Minenräumen abkommandiert wurden. Er stellte sich Mátyás in der Morgendämmerung auf einem Feld vor, wie er sich durch den Nebel tastete; in der Hand einen Stock, einen abgebrochenen Zweig, mit dem er auf der Suche nach Minen im Boden stocherte.
    Als im Dezember Schneestürme durch die Berge trieben und die Arbeiter oft in der Schlafbaracke eingeschlossen waren, verfiel Andras in eine lähmende Depression. Anstatt zu lesen oder Briefe zu schreiben oder in seinem vor Feuchtigkeit geschwollenen Skizzenblock zu zeichnen, lag er im Bett und beschäftigte sich mit den geheimnisvollen dunklen Flecken, die unter seiner Haut aufgetaucht waren. Er sollte die anderen leiten, dem Dienstgrad nach war er immer noch Gruppenführer, musste er seine Leute immer noch zum Sammelplatz führen, die Sauberkeit der Baracken, den Betrieb des Holzofens und all die Kleinigkeiten ihres begrenzten Lebens überprüfen; doch immer öfter hatte er das Gefühl, als führten die anderen ihn, wenn er hinter ihnen herschlurfte und sich seine Stiefel mit Schnee füllten. Er bekam kaum mit, dass Mendel Horovitz eines Sonntagnachmittags während eines malmenden Scheesturms

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