Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
die Idee zu einer Munkaszolgálat-Zeitung hatte. Mendel schrieb seine Einfälle in ein Notizbuch, dann lieh er sich einen Stoß Papier und eine Schreibmaschine von einem Offizier, damit das Ganze professioneller aussah. Er konnte nicht schnell tippen; Mendel brauchte drei Abende, um zwei Seiten Text fertigzustellen. Er arbeitete bis tief in die Nacht. Die Männer warfen mit Stiefeln nach ihm, damit der Lärm aufhörte, doch sein Wunsch, die Zeitung fertigzustellen, war größer als seine Angst vor Flugobjekten. Eine Woche lang arbeitete er jeden Tag, bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
Als er schließlich mit dem Tippen fertig war, brachte er die Blätter zu Andras und setzte sich auf seine Bettkante. Draußen machte der Wind ein Geräusch, das an das Heulen von Füchsen erinnerte. Es war der dritte Tag in Folge des bisher schlimmsten Wintersturms, der Schnee reichte bereits bis zum hohen Fenster der Schlafbaracke. Die Arbeit war an jenem Tag eingestellt worden. Während die anderen Männer ihre Uniformen ausbesserten, feuchte Zigaretten rauchten oder sich am Ofen unterhielten, lag Andras im Bett, starrte an die Decke und drückte mit der Zunge gegen seine Zähne. Die Backenzähne waren erschreckend locker, das Zahnfleisch schwammig. Am Vormittag hatte er Nasenbluten gehabt, das stundenlang gedauert hatte. Er war nicht zum Reden aufgelegt. Ihm war egal, was auf den Blättern stand, die Mendel in der Hand hielt. Er zog sich die raue Decke über den Kopf und drehte sich zur Seite.
»So, Parisi«, sagte Mendel und zog die Decke weg. »Genug gegrübelt.« Parisi, das war Mendels Spitzname für ihn; er war neidisch auf Andras’ Aufenthalt in Frankreich und hatte alles darüber erfahren wollen – insbesondere von den Abenden bei József, vom Drama hinter den Kulissen des Sarah-Bernhardt und von den Liebesabenteuern von Andras’ Freunden.
»Lass mich in Ruhe!«, sagte Andras.
»Geht nicht. Du musst mir helfen.«
Andras setzte sich im Bett auf. »Schau mich an«, sagte er und streckte die Arme aus. Kleine Sträuße blutig-violetter Blumen erblühten unter seiner Haut. »Ich bin krank. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Sehe ich aus, als könnte ich irgendjemandem eine Hilfe sein?«
»Du bist der Gruppenführer«, sagte Mendel. »Es ist deine Pflicht.«
»Ich will nicht mehr Gruppenführer sein.«
»Das kannst leider nicht du entscheiden, Parisi.«
Andras seufzte. »Was genau soll ich für dich tun?«
»Ich möchte, dass du diese Zeitung illustrierst.« Mendel legte die betippten Blätter auf Andras’ Schoß. »Nichts Ausgefallenes. Nicht diesen Unsinn von der Kunstschule. Nur ein paar schlichte Zeichnungen. Ich habe dir Platz neben den Beiträgen gelassen.« Er drückte Andras einen bescheidenen Vorrat von Stiften in die Hand, einige davon farbig.
Andras konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal Buntstifte gesehen hatte. Sie waren spitz und sauber und unversehrt, ein kleines Wunder in der verrauchten Dunkelheit der Schlafbaracke.
»Wo hast du die her?«, fragte er.
»Aus dem Büro geklaut.«
Andras stützte sich auf die Ellenbogen. »Wie heißt denn dein Käseblättchen?«
» Die Schneegans .«
»Na gut. Ich guck mal rein. Und jetzt lass mich in Ruhe.«
Abgesehen von Kriegsnachrichten, brachte Die Schneegans eine Wettervorhersage ( Montag: Schnee. Dienstag: Schnee. Mittwoch: Schnee. ), eine Moderubrik ( Bericht von der Modenschau zu Sonnenaufgang: Die träumenden Arbeitsmänner stellten sich in schicken Anzügen aus grober Wolle auf, der gefragteste Stoff dieses Winters. Mangold Béla Kolos, oberster Modezar von Budapest, sagt voraus, dass sich dieser malerische Stil in null Komma nichts in ganz Ungarn durchsetzen wird. ), eine Sportseite (die Goldene Jugend Transsilvaniens liebt die sportliche Betätigung. Gestern um fünf Uhr in der Früh war der Wald voll junger Menschen, die sich beim momentan beliebtesten Zeitvertreib amüsierten: Schubkarrenfahren, Schneeschaufeln und Baumfällen ), eine Briefkastentante ( Liebe Madame Coco, ich bin eine zwanzigjährige Frau. Wird es meinem Ruf schaden, wenn ich die Nacht im Offiziersquartier verbringe? Viele Grüße, Virginia. Liebe Virginia: Ihre Frage ist zu allgemein. Bitte schildern Sie Ihre Pläne genauer, damit ich Ihnen eine angemessene Antwort geben kann. Viele Grüße, Madame Coco ), Reisewerbung ( Langeweile? Tapetenwechsel nötig? Probieren Sie es mit unserer luxuriösen Rundreise durch das malerische Siebenbürgen! ) und zu Ehren von
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