Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Heckfenster. Der Anblick normalen Stadtlebens – von Straßenbahnen und Konditoreien, von Jungen und Mädchen, die gemeinsam ausgingen, von Kinoplakaten mit ihren sauberen schwarzen Buchstaben – erfüllte ihn mit unerklärlicher Wut, als verhöhne das alles seine Zeit beim Munkaszolgálat.
Der Wagen hielt vor dem Militärkrankenhaus, und die Patienten gingen in einen Meldesaal oder wurden hineingetragen. Dort warteten Andras und Mendel die ganze Nacht auf einer kalten Bank, während Hunderte von Arbeitern und Soldaten ihre Namen und Nummern in einem offiziellen Register eintragen ließen. Irgendwann in den frühen Morgenstunden wurde Mendel in das Krankenhausverzeichnis aufgenommen und fortgeführt, um gewaschen und behandelt zu werden. Es dauerte noch einmal zwei Stunden, bis Andras an der Reihe war, doch schließlich folgte er, benommen vor Erschöpfung, einem Pfleger in den Duschraum, wo der Mann ihm seine dreckige Kleidung auszog, den Kopf rasierte, ihn mit brennendem Desinfektionsmittel besprühte und dann heiß abbrauste. Der Pfleger wusch Andras’ mit Blutergüssen übersäte Haut mit einer unpersönlichen Zärtlichkeit, einer wissenden Nachsicht mit den Schwächen des menschlichen Körpers. Er trocknete ihn ab und führte ihn in einen langen Krankensaal, der auf seiner gesamten Länge von Heizkörpern gewärmt wurde. Man wies Andras ein schmales Metallbett zu, und zum ersten Mal seit anderthalb Jahren schlief er auf einer richtigen Matratze mit richtigen Bettlaken. Als er nach, wie ihm schien, nur wenigen Augenblicken erwachte, stand Klara an seinem Bett, die Augen rot und wund. Er stemmte sich hoch, nahm ihre Hände und wollte die furchtbare Nachricht erfahren: Wer war gestorben? Welche Tragödie hatte sie ereilt?
»Andráska«, sagte Klara mit einer vor Mitleid gebrochenen Stimme, und da verstand er, dass er die Tragödie war, dass sie über das weinte, was noch von ihm übrig war. Andras wusste nicht, wie viel er beim Arbeitsdienst abgenommen hatte, bei dieser Kost aus dünner Suppe und hartem Brot – nur dass er den Gürtel seiner Hose immer enger hatte ziehen müssen und seine Knochen immer stärker hervorschauten. Über seine Arme und Beine zogen sich drahtige Muskeln, die sich durch die ununterbrochene Arbeit gebildet hatten; selbst während seiner Depression im vergangenen Winter hatte er sich nie richtig schwach gefühlt. Doch konnte er sehen, wie wenig sich von seinem Körper unter der über ihn gezogenen Decke abzeichnete. Er konnte sich nur ausmalen, wie knochig und sonderbar er in seinem Krankenhauspyjama, mit seinen blutunterlaufenen Armen und dem rasierten Kopf wirken musste. Fast wäre es ihm lieber gewesen, Klara hätte ihn erst besucht, wenn er wieder wie ein richtiger Mann aussähe. Er senkte den Blick und umklammerte seine eigenen Ellenbogen, eine Geste, die ihm Schutz bot. Er beobachtete, wie Klara die Hände im Schoß faltete; golden funkelte ihr Ehering. Er war noch immer glatt und glänzend, ihre Hände so weiß, wie sie gewesen waren, als er sie zum letzten Mal sah. Sein eigener Ring war stumpf und zerkratzt, seine Hände durch die Arbeit braun und rissig.
»Der Arzt war da«, sagte Klara. »Er sagt, du wirst wieder gesund. Aber du musst Vitamin C und Eisen nehmen und dich lange ausruhen.«
»Ich muss mich nicht ausruhen«, sagte Andras, entschlossen, seiner Frau zu zeigen, dass er auf den Beinen stehen konnte. Er war ja schließlich nicht verwundet oder verkrüppelt. Andras schwang die Beine vom Bett und setzte die Füße auf das kühle Linoleum. Doch dann erfasste ihn ein Schwindel, und er legte die Hand auf die Stirn.
»Du musst etwas essen«, sagte sie. »Du hast zwanzig Stunden geschlafen.«
»Wirklich?«
»Ich soll dir die Vitamintabletten und die Brühe geben, später dann etwas Brot.«
»Ach, Klara«, sagte er und legte den Kopf in ihre Hände. »Lass mich hier einfach allein. Ich bin ein Gräuel.«
Sie setzte sich neben ihn aufs Bett und legte die Arme um ihn. Ihr Geruch war ein wenig verändert – Andras erkannte einen Hauch von Veilchenseife oder Haarwasser, der ihn an Éva Kereny aus seiner Jugend erinnerte, seine erste Liebe in Debrecen. Klara küsste ihn auf die trockenen Lippen und schlang die Arme um seine Taille. Er ließ sich von ihr halten, zu erschöpft, um sich zu wehren.
»Ein bisschen mehr Rücksicht, Gruppenführer«, ertönte eine Stimme von der anderen Seite des Krankensaals. Es war Mendel, der in seinem eigenen sauberen Bett lag. Auch er war
Weitere Kostenlose Bücher