Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
das Versprechen abgenommen, es nicht zu tun. Ich hielt es nicht für klug, dich in deinem Zustand damit zu belasten.«
»Und du warst damit einverstanden?«, fragte sie Andras. »Du dachtest auch, es wäre nicht klug , mich in meinem Zustand damit zu belasten?«
»Wir haben uns darüber gestritten«, sagte György. »Er meinte, du solltest es wissen. Mutter war auch immer der Ansicht, dass du Bescheid wissen solltest. Aber Elza und ich waren dagegen.«
Vor Enttäuschung stiegen Klara Tränen in die Augen. Sie stand auf und lief mit dem Kind auf den Armen über den Rasen. »Das ist eine Katastrophe«, sagte sie. »Ich hätte doch vielleicht etwas tun können. Wir hätten irgendeine Lösung gefunden. Aber niemand hat mir ein Wort gesagt! Kein Wort! Nicht mein Mann, nicht einmal meine eigene Mutter!« Klara ging ins Haus, und Andras folgte ihr; doch bevor er sie einholen konnte, hatte sie bereits ihre Kattunjacke genommen und war durch die schwere Eingangstür verschwunden, Tamás auf dem Arm. Andras riss die Tür auf und lief ihr über den Bürgersteig nach. Sie hastete die Benczúr utca hinunter in Richtung Bajza utca, ihre melonenfarbene Jacke flatterte hinter ihr wie eine Flagge. Das dunkle Haar des Kindes leuchtete im Nachmittagslicht, seine Hand auf Klaras Rücken hatte dieselbe Form und Größe wie die Seesternnadel, die Klara in Südfrankreich im Haar getragen hatte. Andras lief ihr nach, wie er ihr damals nachgelaufen war. Er wäre ihr über den ganzen Kontinent gefolgt, wenn es hätte sein müssen. Doch der Verkehr an der Ecke von Bajza utca und dem Városliget fasor zwang Klara innezuhalten. Sie stand da, blickte auf die vorbeifahrenden Autos und ignorierte ihn. Andras holte sie ein und hob ihre Jacke auf, die ihr von den Schultern gerutscht und auf den Bürgersteig gefallen war. Als er sie um Klara legte, spürte er, dass sie vor Wut bebte.
»Kannst du das nicht verstehen?«, rief er. »György hatte recht. Du hättest dich und das Kind aufs Spiel gesetzt.«
Die Ampel sprang um, und Klara überquerte im selben forschen Tempo die Straße in Richtung Nefelejcs utca. Andras folgte ihr auf dem Fuß.
»Ich hatte Angst, dass du fliehen würdest«, sagte er. »Ich musste zurück zum Arbeitsdienst …«
»Lass mich in Ruhe«, unterbrach sie ihn. »Ich will nicht mit dir reden.«
Er passte sich ihrer Geschwindigkeit an. »Ich habe Respekt vor György«, sagte er. »Er hat mich in sein Vertrauen gezogen. Ich konnte ihn nicht verraten.«
»Ich will nichts mehr davon hören.«
»Du musst mir zuhören, Klara. Du kannst nicht einfach davonlaufen.«
Sie drehte sich zu ihm um. Der Kleine wimmerte an ihrer Schulter. »Du hast zugelassen, dass ich meine Familie an den Bettelstab bringe«, sagte sie. »Das hast du für mich entschieden.«
»Das hat György entschieden«, widersprach Andras. »Und sei vorsichtig, wie du dich ausdrückst. Dein Bruder ist kein Bettler. Wenn er in eine ebenerdige Acht-Zimmer-Wohnung im Erzsébetváros umziehen muss, dann wird er das überleben.«
»Das ist mein Elternhaus «, sagte sie und begann wieder zu weinen. »Das Heim meiner Kindheit.«
»Ich habe meins auch verloren, falls du dich erinnerst«, bemerkte Andras.
Klara wandte sich ab und ging auf das Mietshaus zu, in dem sie wohnten. Am Eingang suchte sie in ihrer Brieftasche nach dem Schlüssel. Andras zog ihn für sie hervor und öffnete die Außentür. Von innen hörte man das Plätschern des Brunnens und die Geräusche von Kindern, die Himmel-und-Hölle spielten. Klara lief über den Hof und hastete die Treppe hinauf; die Kinder hielten inne, Blumentopfscherben in den Händen. Klaras schnelle Schritte hallten von den oberen Stufen wider, spiralförmig klang das Echo herunter. Als Andras oben ankam, war sie bereits in der Wohnung verschwunden. Die Tür stand offen; die Luft im Flur bebte vor Stille. Klara hatte sich im Schlafzimmer eingeschlossen. Der Kleine weinte, und Andras konnte hören, wie sie ihn zu beruhigen versuchte, ihren Tamás – mit ihm sprach, sich laut fragte, ob er Hunger oder eine nasse Windel habe, mit ihm im Zimmer auf und ab lief. Andras ging in die Küche und lehnte den Kopf gegen die kühle Flanke des Eisschranks. Sein Gefühl hatte ihm sofort geboten, ihr die Wahrheit zu sagen. Warum hatte er es bloß nicht getan?
Er setzte sich in die Küche und wartete darauf, dass Klara herauskam. Er wartete, und die Schatten der Möbel auf dem Küchenboden wurden immer länger und wanderten schließlich die
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