Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
Vom Netzwerk:
die Wahrheit so viele Monate vorenthalten hatte.

   [Menü]
    33.
Reise in den Osten
    IN DEN FOLGENDEN WOCHEN versuchte Andras, nicht an die Struma zu denken. Er versuchte, nicht an die getäuschten Passagiere zu denken, die sich auf einem Schiffswrack wiedergefunden hatten, schlecht versorgt und schlecht ausgestattet für die Reise. Er versuchte, nicht an ihre eigene mögliche Fahrt über die Donau zu denken, an das immerwährende Risiko der Entdeckung, an seine Frau und seinen Sohn, die unter Hunger und Durst litten; er versuchte, nicht daran zu denken, dass er seinen Bruder und seine Eltern in Europa zurücklassen würde. Er versuchte, nur an die Notwendigkeit der Emigration und an die finanziellen Mittel zur Vorbereitung der Reise zu denken. Er schickte Rosen ein Telegramm, in dem er von ihrer veränderten Situation berichtete, von der neuen Dringlichkeit, mit der sie es nun zu tun hatten. Zwei Wochen später kam per Luftpost eine Antwort mit der Nachricht, dass Shalhevet sechs Notfallvisa – sechs! – beschafft hatte, für Andras und Klara, Tibor und Ilana und die Kinder. Wären sie erst einmal in Palästina, schrieb Rosen, sei es einfacher, die Visa für die anderen zu organisieren – für Mendel Horovitz, der so wertvoll für den Jischuw wäre, für György, Elza, Andras’ Eltern und die restliche Familie. Es blieb keine Zeit, diese Nachricht zu feiern; zu viel musste vorbereitet werden. Klara musste ihrem Rechtsanwalt in Paris schreiben, er solle den Verkauf des Hauses vorantreiben. Andras musste seinen Eltern schreiben und ihnen erklären, was warum geschehen würde. Und sie mussten so schnell wie möglich mit Klein sprechen.
    Es war Klaras Idee gewesen, ihn gemeinsam zu besuchen, zu sechst. Sie glaubte, er sei eher geneigt zu helfen, wenn er die Leute persönlich kennenlernte, die sich von ihm Rettung erhofften. Sie verabredeten sich für einen Sonntagnachmittag, zogen feine Sachen an und schoben die Kleinkinder in ihren Kinderwagen. Klara und Ilana gingen voran, ihre Sommerhüte nickten einander zu wie zwei Glockenblumen. Andras und Tibor folgten. Sie hätten eine beliebige ungarische Familie beim Sonntagsspaziergang sein können. Niemand wäre darauf gekommen, dass ein siebter fehlte, ein Bruder, der in Russland verschollen war. Niemand hätte erraten, dass sie eine waghalsige Flucht aus Europa vorbereiten wollten. In ihrer Brieftasche hatte Klara ein Telegramm von ihrem Rechtsanwalt, in dem stand, dass ihr Haus auf der Rue de Sévigné für neunzigtausend Francs angeboten werde und dass die Überweisung der Verkaufssumme zwar kompliziert sei, aber über eine Kontaktperson in Wien bewerkstelligt werden könne, die wiederum Kontakte nach Budapest habe. Nirgends würde Klaras Name auftauchen; das Besitzrecht am Gebäude war bereits offiziell auf den nichtjüdischen Anwalt übertragen worden, da Juden im besetzten Frankreich keine Immobilien mehr besitzen durften. Natürlich müssten alle bezahlt werden, doch wenn der Verkauf gut lief, blieben immer noch gut siebzigtausend Francs übrig. Niemand, der Klara betrachtete, als sie an jenem Sonntagnachmittag über die Váci utca ging – ihr aufrechter, zarter Rücken, die gefassten Gesichtszüge unter dem blassblauen Schatten ihres Huts –, hätte geahnt, wie traurig sie zwei Abende zuvor gewesen war, als sie das Telegramm an ihren Anwalt entworfen hatte, in dem sie ihn zum Verkauf aufforderte. Es war lange her, dass sie sich mit Andras ausgemalt hatte, eines Tages zurück nach Paris gehen und ihr altes Leben wieder aufnehmen zu können. Doch die Wohnung und das Ballettstudio waren Werte, die ihr noch gehörten, Landmarken, die ein Territiorium für sie in der Stadt absteckten, die siebzehn Jahre lang ihre Heimat gewesen war. Die Immobilie hatte das Unmögliche möglich erscheinen lassen; sie hatte die beiden zu der Annahme verleitet, alles könne sich ändern, eines Tages könnten sie zurückkehren. Der Entschluss, das Haus zu verkaufen, hatte etwas Endgültiges. Sie gaben diesen Quell der Hoffnung auf, um eine verzweifelte Reise zu finanzieren, die schiefgehen konnte, an einen Ort, der ihnen völlig fremd war – ein kampfbereites, ausgedörrtes Land unter britischer Herrschaft. Doch sie hatten sich entschlossen. Sie würden es versuchen. Und so hatte Klara ihrem Anwalt geschrieben und ihn angewiesen, den Erlös aus dem Verkauf an seine Bevollmächtigten in Wien und Budapest weiterzuleiten.
    Vor dem Haus in der Frangepán köz, wo die Zeit stillstand

Weitere Kostenlose Bücher