Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Eltern, deren Umzug nach Debrecen die bedeutsamste geografische Veränderung ihres Ehelebens gewesen war, hatten sich einverstanden erklärt, die Reise auf sich zu nehmen, wenn es möglich sein sollte, wenn sie Einreisevisa erhalten könnten; sie wollten von ihren Kindern und Enkelkindern nicht durch einen Kontinent oder ein Meer getrennt sein.
Als die Dürrezeit zu Ende war, begann die Flucht Gestalt anzunehmen. Klein hatte einen Schiffer namens Szabó ausfindig gemacht, der sie bis zur rumänischen Grenze bringen würde; ein weiterer, Invanescu, würde sie bis nach Constanţa geleiten; Klein buchte ihren Transport unter dem Familiennamen Gedalya auf der Trasnet , einem ehemaligen Fischerboot, das zu einem Flüchtlingsschmuggelschiff umgebaut worden war. Sie mussten sich auf Enge und Hunger einstellen, auf Hitze, Dehydrierung und Seekrankheit, auf tagelange Verzögerungen in türkischen Häfen, ohne dass sie das Risiko eingehen dürften, von Bord zu gehen; sie dürften nur das Nötigste mitnehmen. Sie sollten froh sein, dass sie diese Reise im Sommer machten, wenn das Wasser ruhig war. Über den Bosporus würden sie Istanbul hinter sich lassen und durch das Marmarameer in die Ägäis gelangen. Von dort würden sie ins Mittelmeer kommen, und wenn sie den Patrouillen und U-Booten ausweichen konnten, würden sie drei Tage später in Haifa anlegen. Von Anfang bis Ende würde die Reise zwei Wochen dauern, falls alles glattlief. Am zweiten August würden sie aufbrechen.
Klara besaß einen altmodischen Wandkalender aus Holz, auf den eine Amsel auf einem Kirschbaumzweig gemalt war. Drei kleine Fensterchen zeigten Tag, Datum und Monat an; jeden Morgen, bevor Andras nach Szentendre aufbrach, drehte er die kleinen Rädchen weiter. Er drehte durch den Juli mit seinen gewitterschweren Tagen, drehte von den einzelnen Ziffern zu zweistelligen Zahlen, während die Pläne für die Reise gediehen. Sie suchten Kleidung, Stiefel, Hüte zusammen; sie packten ihre Koffer immer wieder neu, um ihre Habseligkeiten so platzsparend wie möglich zu verstauen. Sonntagnachmittags gingen sie zusammen durch die Stadt, füllten ihre Köpfe mit den Bildern der Dinge, an die sie sich erinnern wollten: der grüne Dunst flusskühler Luft auf der Margareteninsel, das donnernde Vibrieren der Autos auf der Kettenbrücke, der Geruch von frisch gemähtem Gras und heißen Schwefelquellen im Városliget, die leere Betonschüssel der Eislaufbahn, das lange graue Donauufer, an dem Andras in einem anderen Leben mit seinem Bruder spazieren gegangen war, als sie das Gimnázium abgeschlossen hatten und in einem Zimmer auf der Hársfa utca wohnten. Sie besuchten die Synagoge, wo Klara und er geheiratet hatten, das Krankenhaus, wo ihr Sohn geboren worden war, das helle, kleine Studio, wo Klara ihre Privatstunden gab. Sie prägten sich ihre eigene Wohnung auf der Nefelejcs utca ein, die erste, in der sie zusammengelebt hatten. Aber es gab auch verfluchte Orte, von denen sie sich nicht verabschiedeten: das Haus auf der Benczúr utca, das jetzt leer stand und auf die Ankunft des Sohns vom Justizminister wartete, die Oper mit ihren langen, hallenden Gängen, das Straßenpflaster in jener Gasse, wo vor langer Zeit das geschehen war, was geschehen war.
Eines Sonntags, zwei Wochen vor dem zweiten August, ging Andras allein zu Klein. Das Päckchen mit den Einreisevisa war aus Palästina eingetroffen. Es war das letzte Dokument, das sie noch brauchten, um ihre Akte zu vervollständigen, dieser Satz steifer weißer Papiere, in die das Siegel des britischen Innenministeriums und der Davidsstern des Jischuw geprägt waren. Klein würde davon Faksimiles erstellen, die er für den Fall aufbewahrte, dass den Originalen etwas zustieß. Bei Andras’ Ankunft war Kleins Großvater auf dem Hof und fütterte die Ziegen. Er legte eine Hand an die Mütze.
»Sie sind bald weg«, sagte er.
»Noch vierzehn Tage.«
»Ich wusste, dass der Junge sich drum kümmern würde.«
»Er hat offensichtlich ein Talent dafür.«
»So ist er, unser Junge. Er ist wie sein Vater, immer nur am Planen, immer mit seinen Apparaten beschäftigt, damit alles funktioniert. Sein Vater war ein Erfinder, ein Mann, dessen Namen jeder gekannt hätte, wenn er noch leben würde.« Er erzählte Andras, dass Kleins Eltern an Grippe gestorben waren, als Miklós noch ein kleiner Junge war; sie waren der Mann und die Frau auf den Fotografien, wie Andras vermutet hatte. Jedes andere Kind hätte den Verlust nicht
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