Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
die seine Söhne auf der Reise wiederholen könnten. Die ältere Frau Hász unterhielt sich mit Andras’ Mutter, die erfahren hatte, dass ihre eigene Schwester Verwandte von Frau Hász in Kaba kannte, ein Ort unweit von Konyár. György kehrte von der Arbeit heim, das Hemd vorne feucht vor Schweiß, gab Andras’ Mutter einen Kuss und reichte Béla die Hand. Elza Hász führte alle ins Esszimmer und bat sie, am Tisch Platz zu nehmen.
Das Zimmer war wie für eine Feier geschmückt: spitz zulaufende Kerzen in silbernen Leuchtern, Rosen in blauen Glasschalen, Karaffen mit gelbbraunem Wein, Teller mit Goldrand und Vogelmuster. Andras’ Vater segnete das Brot, und derselbe grimmige Diener wie immer trat vor, um ihnen aufzugeben. Zuerst unterhielten sie sich über Banalitäten: die schwankenden Holzpreise, den im Jahrbuch vorhergesagten frühen Herbst, die skandalträchtige Beziehung zwischen einem Parlamentsmitglied und einem ehemaligen Stummfilmstar. Doch unvermeidlich steuerte das Gespräch auf den Krieg zu. Die Morgenzeitungen hatten berichtet, dass deutsche U-Boote im Verlauf des Sommers eine Million Tonnen britisch-amerikanischen Schiffbestands versenkt hatten, allein im Juli siebenhunderttausend Tonnen. Und die Nachrichten aus Russland waren nicht besser: Die ungarische zweite Armee stieß nach der blutigen Schlacht bei Woronesch Anfang Juli im Gefolge der deutschen sechsten Armee weiter vor in Richtung Stalingrad. Die ungarische zweite Armee hatte bei der Unterstützung ihres Verbündeten bereits einen hohen Blutzoll gezahlt. György hatte gelesen, über neunhundert Offiziere und zwanzigtausend Soldaten seien bereits gefallen. Niemand sprach aus, was alle dachten: dass zur ungarischen zweiten Armee fünfzigtausend Zwangsarbeiter gehörten, fast ausnahmslos jüdisch, und dass die Arbeitsbataillone, wenn es der ungarischen Zweiten schon schlecht erging, sicherlich noch schlechter dran waren. Von der Straße stieg wie ein Ausrufezeichen das vertraute goldtönende Klingeln der Straßenbahnglocke herauf. Es war ein Geräusch, das zu Budapest gehörte, ein Geräusch, das von den Mauern der Gebäude entlang der Straße verstärkt und zum Schwingen gebracht wurde. Andras konnte nicht umhin, an seine erste Abreise vor fünf Jahren zu denken, die ihn von Budapest nach Paris und zu Klara geführt hatte. Was nun vor ihm lag, war gefährlicher, aber sonderbarerweise weniger beängstigend: Zwischen ihm und den Schrecken des Unbekannten war die tröstliche Gegenwart von Klara und Tibor. Und am anderen Ende warteten Rosen und Shalhevet und die Aussicht auf harte Arbeit, die er auf sich nehmen wollte, dazu das Versprechen einer gänzlich neuen Art von Freiheit. In einigen Monaten würde Mendel Horovitz vielleicht zu ihnen stoßen; Andras’ Eltern würden kurz darauf folgen. In Palästina würde sein Sohn niemals eine gelbe Armbinde tragen oder Angst vor seinen Nachbarn haben müssen. Er selbst könnte vielleicht seine Architektenausbildung beenden. Andras konnte sich nicht dagegen wehren, ein gewisses Mitleid für József Hász zu empfinden, der hier in Budapest bleiben und sich allein in der Kompanie 79/6 durchschlagen würde.
»Du solltest auch nach Palästina kommen, Hász«, sagte er. Durch die Emigration in den Mittleren Osten würde Andras weiter gereist sein als József, wie er mit einer gewissen Genugtuung feststellte.
»Ich würde mich nicht dabeihaben wollen«, sagte József ausdruckslos. »Ich bin ein furchtbarer Reisegenosse. Ich würde seekrank werden. Mich ständig beschweren. Und das wäre nur der Anfang. In Palästina wäre ich zu nichts zu gebrauchen. Ich kann weder Bäume pflanzen noch Häuser bauen. Außerdem kann meine Mutter sowieso nicht auf mich verzichten, stimmt’s, Mutter?«
Frau Hász schaute zuerst Andras’ Mutter an und dann auf ihren Teller. »Vielleicht änderst du noch deine Meinung«, sagte sie. »Vielleicht kommst du doch noch mit uns.«
»Bitte, Mutter«, sagte József. »Wie lange willst du uns noch etwas vormachen? Du gehst bestimmt nicht nach Palästina. Du steigst ja nicht mal in ein Boot auf dem Plattensee.«
»Niemand macht hier jemandem etwas vor«, sagte seine Mutter. »Dein Vater und ich werden gehen, sobald unsere Visa da sind. Wir können auf keinen Fall hierbleiben.«
»Großmutter«, sagte József. »Sag du meiner Mutter, dass sie den Verstand verloren hat.«
»Ganz bestimmt nicht«, gab die ältere Frau Hász zurück. »Ich gehe selbst mit. Ich wollte schon immer das
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